Hamburg/Paris. Warum der Hamburger Tagesthemen-Moderator der perfekte Olympia-Experte ist, obwohl er die Wettbewerbe nicht verfolgen wird.

Sein verborgenes Sporttalent enttarnt Ulrich Wickert als aussterbende Spezies: Der 81-Jährige spielt die Rückhand einhändig. Im Spitzentennis inzwischen eine Rarität, kein Top-10-Spieler der aktuellen Weltrangliste returniert noch so. Wickert dagegen präsentiert die deutlich ästhetischere Schlagvariante noch zweimal die Woche beim Club an der Alster. Dementsprechend in blendender Form erscheint er gut gebräunt auf dem Fahrrad und mit lässiger Sonnenbrille zum Interviewtermin im Restaurant Brücke, seiner Stammkneipe.

Die Tenniswettbewerbe bei den am Freitag beginnenden Olympischen Spielen in Paris (26. Juli bis 11. August) wird sich der Journalist nicht ansehen. Was nicht daran liegt, dass er sich an der dort fast ausnahmslos offenbarten beidhändigen Ausführung der Rückhand echauffiert. „Die Olympischen Spiele sind während der Ferien. Die Kinder wollen raus, und man selber auch. Ich möchte jedenfalls nicht drin sitzen, um den 5000-Meter-Lauf zu sehen, sondern schaue allenfalls punktuell mal rein“, sagt er. Olympia gucken fällt also aus. Aber sprechen möchte der langjährige Tagesthemen-Moderator sehr gern darüber, vor allem über sein Paris, „eine meiner Heimaten“, wo er als Jugendlicher aufwuchs und in den 1980er-Jahren als ARD-Korrespondent arbeitete.

Ulrich Wickert über die Olympischen Spiele in Paris

„So, nun stellen Sie Ihre Fragen mal“, bittet er mit unverkennbarer Stimme – wird aber erstmal aus ganz anderer Richtung gefragt. Die Kellnerin wünscht die Bestellung. Eine Karaffe Sprudelwasser und „vielleicht einen Caesar-Salat bei der Hitze“, überlegt Wickert laut, entscheidet sich dann aber für das Thai-Curry. Dass die kaum Deutsch sprechende Bedienstete die Order von der Speisekarte abpausen muss, lächelt der dreifache Vater gütig weg. „Wir sind ja geduldig.“

Geduld lässt sich in Paris auch gut erlernen, zumindest wenn man den Fehler begeht, sich auf vier Rädern fortzubewegen. „Ich würde immer die Metro nehmen. Für mich ist sie die beste U-Bahn der Welt, weil auf einem Gleis immer Züge in nur eine Richtung fahren, dazu in den Stoßzeiten extrem frequent. Die Metro ist flott, der Bus steht im Stau“, sagt Wickert, der immer eine Metro-Card im Portemonnaie mit sich führt.

Sicherheit ist das beherrschende Thema bei Olympia in Paris

Eine angespannte Verkehrssituation wird sich in Frankreichs Hauptstadt während Olympia dennoch nicht ganz vermeiden lassen, ein Chaos rund um die generelle Organisation erwartet Wickert jedoch nicht: „Alle haben das vorher gesagt, aber die Franzosen sind hervorragend darin, sich im Chaos zu arrangieren. Pläne können vergleichsweise schnell und pragmatisch angepasst werden.“ Insbesondere die Sicherheit hat allerhöchste Priorität, die Polizeipräsenz im Stadtbild ist massiv. Nahezu alle Einsatzkräfte sind mobilisiert worden, es wurde eine Urlaubssperre verhängt, dazu gibt es einen Finanzzuschlag für die Beamten. Spezialisten überprüften zudem alle der kleinen und eigentlich nicht zum Verweilen gedachten Balkone an der Seine, wo die Eröffnungsfeier stattfinden wird, auf ihre Stabilität.

Wickert weiß das ganz genau. Sein Morgenritual besteht, nachdem die zwölfjährigen Zwillinge (ein Mädchen, ein Junge) zur Schule gebracht worden sind, aus mehrstündiger Zeitungslektüre. „Le Monde“ (Printversion) und „Figaro“ (E-Paper) sind Pflicht. Was in Paris los ist, beschäftigt den in Tokio geborenen Hamburger.

Tagesthemen-Moderator Wickert: „Paris ist wie ein Dorf“

Seine Wohnung dort, die er dieser Tage für sündhafte Preise vermieten könnte, hat Wickert schon lange verkauft. „Sonst bin ich immer aus der Großstadt in die Großstadt gekommen, das hat zumindest in der Urlaubszeit wenig Sinn ergeben“, sagt er, während er das Curry aufgabelt. Wenn Wickert nun nach Paris reist, was „leider viel zu selten“ geschieht, übernachtet er immer im kleinen Hôtel des Saints Pères – ohne Frühstück. Das gibt es im Café de Flore. Paris, die Stadt der Gewohnheiten.

Überhaupt: „Wenn Sie in Paris wohnen, haben Sie recht bald Ihr eigenes Dorf, Ihre Bistros, Ihren Kiosk, Ihren Käsehändler. Ich habe viele Freunde dort, wenn ich hinfahre, darf ich vorher gar nicht allen Bescheid sagen, weil mir die Zeit sonst fehlen würde. Häufig treffe ich zufällig Bekannte auf der Straße im Viertel“, sagt Wickert, dessen Krimis überwiegend im Künstlerviertel Belleville spielen.

Die Sorge vor Anschlägen ist groß, das Sicherheitsaufgebot ebenfalls

An Kriminalgeschichten, so die große Hoffnung, soll es während der Olympischen Spiele allerdings mangeln. Die Furcht vor Anschlägen ist groß. „Mit den Attentaten können sich die Franzosen überhaupt nicht arrangieren, dafür passiert momentan zu häufig etwas. Unsicherheit war auch bei den jüngsten Wahlen das vorrangige Thema“, sagt Wickert. Trotzdem überwiegt bei der Bevölkerung eindeutig die Vorfreude auf Olympia. „Normalerweise ist Paris im Juli und August ganz leer. Ein paar Pariser fliehen auch jetzt wieder, aber viele finden das doch spannend, wenn Olympia vor der Haustüre ist und werden diesmal in der Stadt bleiben, um sich das anzuschauen“, sagt Wickert.

Zum dritten Mal nach 1900 und 1924 finden die Olympischen Spiele in Paris statt. Am Freitag ist die Eröffnungsfeier. 
Zum dritten Mal nach 1900 und 1924 finden die Olympischen Spiele in Paris statt. Am Freitag ist die Eröffnungsfeier.  © Witters | Joel Marklund

Was viele nicht wissen: Als sich Paris für die letztlich nach London vergebenen Spiele 2012 beworben hatte, war Wickert vom damaligen Bürgermeister Bertrand Delanoë zum Botschafter ernannt worden. „Ich habe diese Aufgabe mit großem Vergnügen angenommen – die dann zu nichts geführt hat“, sagt Wickert grinsend.

Breakdance bei Olympia? Laut Journalisten-Legende Wickert „fürchterlich“

Weniger zu lachen zumute ist dem Bundesverdienstkreuzträger erster Klasse, wenn das Gespräch tiefgründiger auf Olympia eingeht. „Mich stört es, wenn das Gefühl entsteht, man kann sich Olympia oder eine WM kaufen. Das hat mit Sport nichts zu tun, sondern mit dem Ehrgeiz der Funktionäre. Auch der Gigantismus ist mitunter unnötig, man schaue sich nur an, wie die WM-Stadien in Brasilien jetzt vergammeln“, sagt er. Dem Internationalen Olympischen Komitee würde etwas mehr Zurückhaltung besser zu Gesicht stehen.

Auch die sportliche Entwicklung ist nicht durchweg nach seinem Geschmack. „Bei Olympia bin ich Traditionalist. Ich würde es auf die klassischen Sportarten reduzieren und finde es übertrieben, was alles erfunden wird, um alles noch größer zu machen. Breakdance beispielsweise ist absolut toll und ein Kulturgut, aber ich finde es fürchterlich, dass man das unbedingt in die Olympischen Spiele integrieren muss.“ Findet eine Vielzahl der Breakdancer übrigens auch, die lieber den urbanen Charakter bewahren möchten. Bei den Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles fliegt die Sportart wieder aus dem Programm.

Wickert fordert Ausschluss russischer Athleten

Grundsätzlich sei der olympische Gedanke aber etwas Wunderbares. So wie im alten Griechenland, wofür sich Wickerts Sohn zur Freude des Papas sehr interessiert, gab es während dieser Zeit keinen Krieg. „Diese Idee gefällt mir. Das Dumme ist nur, dass da keiner mitmacht“, sagt Wickert. Auch die Teilnahme russischer Sportler unter neutraler Flagge sieht er kritisch, selbst wenn diese sich gegen den Ukraine-Krieg aussprechen. „Da sollte man radikal sein. Sie sind nun mal Teil eines Staates, der imperialistisch versucht, sich weiter auszudehnen. Dann ist das Pech für die Athleten“, meint Wickert, der als 13-Jähriger ohne Sprachkenntnisse direkt in eine französische Schule gehen und eigenständig die Sprache lernen musste („Geschadet hat es meiner Psyche nicht“).

Inzwischen ist die recht üppige Portion Thai-Curry verspeist. „Hervorragend“, lobt Wickert und bestellt beim Chef des Lokals noch einen Espresso durchs offene Fenster. Den Mund putzt er sich vornehm mit einem orangefarbenen Taschentuch, das er aus der rechten Hosentasche zieht. Dann lehnt sich der großgewachsene Mann kurz zurück und beobachtet. Wickert ist mittlerweile in einer Phase angelangt, die ältere, sehr gute Schauspieler auszeichnet: Wenn sie kaum etwas machen müssen, um schon eine ungemeine Wirkung zu erzeugen. Seine Denkpausen sind daher beinahe genauso aussagekräftig wie die scharfsinnigen Sätze, deren Abgang Wickert häufig mit einem väterlichen Schmunzeln garniert.

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Eine Unterhaltung mit Wickert ist ein Genuss. Und auch er genießt. Die Ferien im Übrigen in Frankreich. Wie erwähnt nicht bei Olympia, sondern mit der Familie in seinem Haus nahe Antibes. Dort möchte er die traumhafte Natur auskosten. Und vielleicht auch etwas Tennis spielen. Einhändig, versteht sich.