Herzogenaurach. Kriege, Krisen, Konflikte: Die Nationalmannschaft kann bei der Heim-EM dafür sorgen, dass sich die Deutschen mal wieder einig sind.
Philipp Lahm und seine Kollegen der Organisationseinheit EURO 2024 GmbH haben sich in den vergangenen Monaten größte Mühe gegeben. Die Trophy Tour durch die Host Cities, Fan- und Inklusionsfeste, Besuche in Schulen, bei der Berlinale oder der Vorstellung des Spielballs – der Turnierdirektor nutzte jede Möglichkeit, um Deutschland auf die Europameisterschaft im eigenen Land einzustimmen. Doch von allzu großer Vorfreude oder gar EM-Euphorie war in den vergangenen Tagen und Wochen noch wenig zu spüren.
Das liegt zum einen natürlich an den Misserfolgen der DFB-Auswahl in den vergangenen Jahren, begleitet von der künstlichen Vermarktung einer emotionslosen Mannschaft, aber auch an der zunehmenden Politisierung der Nationalmannschaft, die in ihren zwiegespaltenen Protesten rund um die verbotene One-Love-Binde bei der WM in Katar ihren Tiefpunkt erreichte.
Es lag aber auch an der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in den vergangenen Jahren. Migrations- und Rassismusdebatten befeuert durch den Aufstieg der rechtspopulistischen AFD, die emotionalen Diskussionen während der Corona-Pandemie mit ihren Gegnern und Befürwortern der Schutzmaßnahmen, Meinungsverschiedenheiten um Waffenlieferungen in die Ukraine und nicht zuletzt der immer häufiger auf deutschen Straßen ausgetragene Hass vieler Muslimen auf Juden seit Beginn des Israel-Gaza-Kriegs am 7. Oktober 2023, der die Israel-Kritiker und Unterstützer in Deutschland nicht weniger spaltet.
Nur über die Tore von Kai Havertz, Florian Wirtz oder Thomas Müller für die deutsche Nationalmannschaft wurde in den vergangenen Jahren immer seltener diskutiert. Was natürlich damit zu tun hat, dass es nicht allzu viele bedeutende Tore der DFB-Elf mehr gab. Oder was war Ihr letzter emotionaler Moment, den Sie mit der Nationalmannschaft verbinden? Ich denke zuerst an das Tor von Toni Kroos bei der WM 2018. Sechs Jahre ist das nun schon her.
Das Leben in Deutschland ist seitdem nicht einfacher geworden, insbesondere teurer. Nur ein kleines Beispiel neben den großen Themen Inflation und steigenden Mieten: Ein halber Liter Bitburger-Fassbier kostet bei den offiziellen Fanfesten in den kommenden Wochen sieben Euro. Da vergeht einem schnell die Lust auf einen Besuch der Orte, die wie keine anderen das Sommermärchen 2006 symbolisierten.
Ohnehin lässt sich die WM-Stimmung von damals in Deutschland nicht einfach so kopieren. Und trotzdem bietet die Europameisterschaft eine große Chance, in den Zeiten der Empörungskultur und des Dauerjammerns in Deutschland wieder eine Atmosphäre zu entfachen, die sich zumindest ein bisschen wieder nach Sommermärchen anfühlt. Ein wenig weniger Regen als in den vergangenen Wochen wäre dazu sicher auch hilfreich. Vor allem aber braucht es dafür eine deutsche Mannschaft, die mit ihrer Einstellung, ihrem Auftreten und letztlich natürlich ihren Ergebnissen dafür sorgt, dass Fußballfans in Deutschland von Flensburg bis Garmisch wieder gerne mit dem Trikot der Nationalmannschaft ins Büro kommen.
Die Vorzeichen stehen zumindest gut. Die umstrittene und kürzlich veröffentlichte WDR-Umfrage, wonach sich 20 Prozent der Deutschen eine „weißere“ Nationalmannschaft wünschen, war der einzige mittelschwere Aufreger der EM-Vorbereitung. Laut einer Umfrage der Sport Marketing Agentur ONE8Y sind 73 Prozent der Deutschen vor dem Eröffnungsspiel gegen Schottland zufrieden mit dem Gesamtbild des DFB-Teams. Vor den Spielen im März gegen Frankreich und die Niederlande waren es nur 53 Prozent.
Ein klares Indiz, dass es vor allem Siege und weniger Trophy Touren braucht, um die Deutschen in EM-Stimmung zu bringen. Ein überzeugender Erfolg zum Auftakt wäre daher zur Abwechslung mal wieder hilfreich. Dann klappt es sicher auch mit der Euphorie.