Budapest. Die deutsche Leichtathletik holt erstmals keine Medaille. Zehnkampf-Idol Frank Busemann überrascht das Ergebnis überhaupt nicht.
Julian Weber stand allein im Stadion Nemzeti Atlétikai Központ, noch immer perlte Schweiß auf seiner Stirn. Mit jeder Pore hatte sich der 28-Jährige vergeblich gegen das gestemmt, was nun Gewissheit war. Der Mainzer Speerwerfer hatte bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Budapest die letzte deutsche Chance, doch noch im Medaillenspiegel aufzutauchen, vergeben. Beim Sieg des indischen Olympiasiegers Neeraj Chopra wurde er Vierter. Deutschland schloss die Wettkämpfe mit null Medaillen ab – das hat es noch nie gegeben. Das bisherige Gruselergebnis der WM 2022 in Eugene mit je einmal Gold und Bronze wurde noch mal unterboten. Wie zum Trotz kündigte Weber an: „Ich werde daraus meine Motivation schöpfen – und nächstes Jahr unschlagbar sein.“ Der Speerwurf, prophezeite er, „holt nächstes Jahr wieder Medaillen“.
Weber sowie seinen Kolleginnen und Kollegen ist das zuzutrauen. Überhaupt ist den WM-Teilnehmern kein Vorwurf zu machen – sie haben ihr Bestes gezeigt. Doch es ist ein düsteres Bild, das die deutsche Leichtathletik abgibt. „In vielen Disziplinen haben wir den Anschluss an die Weltspitze verloren, die sich signifikant entwickelt hat“, sagt Jörg Bügner, seit März Sportdirektor beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV). „Wir können mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein und müssen uns mehr anstrengen, ich bin aber zuversichtlich, dass wir aus dem Tal herauskommen.“
Düstere Prognosen für die Zukunft
Frank Busemann, Zehnkampf-Silbermedaillengewinner von Olympia 1996 in Atlanta, zeigt sich „weder schockiert noch überrascht“ von dem Ergebnis. „Das ist eine Entwicklung, die sich seit zig Jahren angekündigt hat und nun sichtbar wird.“ Ob bei der Talentsichtung, der Förderung, dem Ausbau von Infrastruktur, den Bedingungen für Trainer und Ehrenamt – zu viel sei vernachlässigt worden. Viele erfahrene Coaches gehen bald in den Ruhestand, Nachfolger sind kaum in Sicht. Ob Deutschland so den Anschluss an die Weltspitze schafft? „Ich werde das nicht mehr erleben“, so der Dortmunder Busemann. „Zwei bis drei Medaillen pro globale Meisterschaft ist das, was wir realistisch anstreben können.“
Aber da waren doch die schönen Bilder im vergangenen Jahr in München, als Deutschland den Medaillenspiegel bei der EM anführte. Busemann hat die bayerischen Festspiele wie nun auch die WM als TV-Experte begleitet. Der 48-Jährige sagt: „München war ein Trugschluss. Da dachte man, die Welt sei in Ordnung – das Ergebnis hat den Blick verklärt.“ Wie es um die Klasse der deutschen Leichtathletik steht, hatte sich einen Monat zuvor in Eugene gezeigt.
Fehlende Wertschätzung für Leistung in der Gesellschaft
Busemann nennt mehrere Gründe. Es zeige sich jetzt, welche Nationen die Corona-Krise gut für einen Basisaufbau genutzt hätten. „Da ist es nach 2020 zu einer Leistungsexplosion gekommen.“ In Deutschland blieb diese aus. „Was mir aber Angst macht“, sagt er, „ist die fehlende Wertschätzung für Leistung und Sport in der Gesellschaft.“ Kinder und Jugendliche würden schon früh lernen, „dass Leistung egal ist, man sich nicht quälen muss, dass man auch so durchkommt“. Allein der niedrige Stellenwert von Sportunterricht sei bezeichnend.
Und: „Wenn in Deutschland einer formuliert, er wolle Weltmeister werden, dann gilt er direkt als arrogant. Wenn in den USA einer sagt, er wolle eine Medaille gewinnen, dann heißt es: Er hat den Fokus nicht, der muss doch gewinnen wollen.“ Die Gier danach, andere vom Thron zu stoßen, gelte in Deutschland zunehmend als unschick. „Wenn das die Grundeinstellung der Gesellschaft ist, darf ich auch keine Medaillen erwarten – das ist widersprüchlich.“
Lizenz zum Umkrempeln
DLV-Präsident Jürgen Kessing sieht „den Niedergang des deutschen Sports“ als „gesamtgesellschaftliche Entwicklung“. Laut Prognose sei „der Tiefpunkt noch gar nicht erreicht, sondern im nächsten Jahr zu erwarten, was zum Beispiel Medaillenerwartungen bei Olympischen Spielen im Sport insgesamt angeht“. Um dieser entgegenzuwirken, schwebt Kessing, Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen, „die eine oder andere Milliarde“ als Unterstützung vom Bund vor. Tatsächlich steht aber eine Kürzung von Mitteln im Raum.
Während Kessing auf politischer Bühne kämpft, wird Sportdirektor Jörg Bügner zum Reformer. Nach der Eugene-Analyse wurde sein Posten beim DLV geschaffen. Bügner trägt die gesamtheitliche Verantwortung für den Leistungssport. Er hat die Lizenz zum Umkrempeln. Bis 2028 soll Deutschland wieder Top-Fünf-Nation sein. Nach dem Auftritt in Budapest ist das schwer vorstellbar. Kessing: „Es kann bis zu einer Athletengeneration dauern, bis Maßnahmen greifen.“
Sportdirektor bittet um Geduld
Die Erfolgsformel des promovierten Sportwissenschaftlers Bügner lautet: „hochtalentierte Athleten auf ihrem Zenit plus hochqualifizierte und erfahrene Trainer plus Umfeld und optimale Rahmenbedingungen gleich Erfolg“. Doch diese müsse man in einem „komplexen Organisationsentwicklungsprozess“, beeinflusst von bürokratischen Zwängen, umsetzen. Klingt kompliziert, ist es auch. Bügner: „Ich kann nur um Geduld bitten.“ Frank Busemann findet es gut, „dass sich etwas bewegt. Jörg Bügner scheint zu wissen, wo er ansetzen muss, dass viel Arbeit in verkrusteten Strukturen vor ihm liegt“. Der Blick über den Tellerrand hat zu lange gefehlt. Die Quittung gab es in Budapest.