Frankfurt/Main. Dem Reiz der Heim-EM konnte der 34-Jährige nicht widerstehen. Als Heilsbringer der DFB-Elf sieht er sich allerdings nicht.
Dienstag, 12.32 Uhr, Frankfurt/Main. Toni Kroos hat einen Toni-Kroos-Moment. Der Ball liegt unweit seines Fußes bereit, um eine Abwehrkette aufzubrechen. Jamal Musiala stiebitzt sich währenddessen im Rücken seiner Gegenspieler davon und rennt diagonal in den Strafraum. Kroos sieht ihn, vor seinem inneren Auge hat sich zu diesem Zeitpunkt schon längst die große Lücke aufgetan, durch die Kroos den Ball nun schlagen wird, die aber nur wenige sehen können. Er landet genau im Lauf von Bayern Münchens Ausnahmetalent, doch Musiala scheitert an Manuel Neuer. Kroos aber hat gedankenschnell nachgesetzt und staubt ab.
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Kroos dirigiert, Musiala oder Florian Wirtz von Bayer Leverkusen lassen ihrem Talent freien Lauf, im Zweifelsfall hilft der Routinier mit seiner Erfahrung – so stellen sie sich das vor bei der deutschen Nationalmannschaft „Es sind außergewöhnliche Spieler“, sagt Kroos. „Wir haben alle die Aufgabe, sie dahin zu bringen, dass sie uns allen Spaß machen und dass sie nicht untergehen.“
DFB-Team: Toni Kroos nicht der „alleinige Heilsbringer“
Eigentlich müsste ja allein schon der Gedanke an Dribblings von Wirtz und Musiala für ein Prickeln im Hinblick auf den Sommer sorgen. Doch ob der Erfahrungen der vergangenen Monate und der drei jüngsten Turniere, die Musiala und Wirtz weiß Gott nicht verbockt haben, scheint auch die Heim-Europameisterschaft unter keinem guten Vorzeichen zu stehen. Euphorie? Noch keine Spur davon.
Toni Kroos soll das ändern, doch er weiß, dass er „kein alleiniger Heilsbringer“ sein kann, wenn er am Samstag nach 998 Tagen im Länderspiel in Lyon gegen Frankreich (21 Uhr/RTL) wieder das weiße Trikot mit dem Adler auf der Brust überziehen wird. „Ich versuche, eine gewisse Verantwortung zu übernehmen, gewisse Dinge anzuschieben“, meinte Rückkehrer Kroos. „Man sieht an der Kaderzusammenstellung, dass es noch mehr Dinge gibt, die verändert werden müssen.“
Als eine Maßnahme jedenfalls hat Bundestrainer Julian Nagelsmann eine Umbesetzung des Mittelfeldzentrums für mehr Ruhe durchgeführt, die auch der Real-Madrid-Profi noch einmal skizzierte. Mit einem klaren Sechser, der Kroos den Rücken freihalten soll und Robert Andrich (29, Bayer Leverkusen), Pascal Groß (32, Brighton & Hove Albion) oder der erkrankte Aleksandar Pavlovic (19, Bayern München) heißen könnte. Mit Kapitän Ilkay Gündogan (33, FC Barcelona), der sich vor Kroos als Spielmacher entfalten kann. „Mit welchen Namen die Positionen dann besetzt sind, liegt nicht an mir“, sagte Kroos. Sondern an Nagelsmann. Schon bald wird sich zeigen, ob Kroos‘ Rückkehr ein genialer Schachzug des Bundestrainers oder der nächste verzweifelte Versuch gewesen sein wird, die DFB-Elf in EM-Schuss zu bringen.
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Toni Kroos trat 2021 aus der DFB-Elf zurück
Bleibt noch die Frage, was sich Toni Kroos davon verspricht. 34 Jahre alt ist er im Januar geworden, in seiner Vita stehen fünf Champions-League-Siege. Bei Real kratzt er als Aktiver am Legendenstatus. 2014 wurde er mit der Nationalelf Weltmeister, spielte eine tragende Rolle. Zu seiner Zeit im DFB-Team gehört allerdings, auch dass er 2018 und 2021 zwei Turniere mit in den Sand setzte. Nach der EM vor drei Jahren trat er zurück.
Schon häufiger bemängelte Kroos, dass ihm in Deutschland aufgrund seiner Erfolge nicht die entsprechende Wertschätzung zuteil geworden ist. Man verspottete Kroos als „Querpass-Toni“, eine Schmähung, die schon viele Jahre nicht mehr zeitgemäß ist. Er hätte auch einfach sagen können: Macht mal euren EM-Mist allein. Und in den Urlaub fahren.
„Ich habe meinen Frieden geschlossen und glaube nicht, dass ich noch jemandem was beweisen muss“, stellte Kroos am Dienstag klar. „Mir geht es in erster Linie darum, ob ich der Mannschaft helfen kann. Und ich glaube, dass ich das mit Ja beantworten kann.“ Körperlich verspüre er „keinen Verschleiß“.
Toni Kroos: Rückkehr ins DFB-Team sei „längerer Prozess“ gewesen
Es sei ein längerer Prozess gewesen. Kroos erwähnte lobend, dass Nagelsmann ihn zu keinem Zeitpunkt seiner Grübelei unter Druck gesetzt habe. So habe der gebürtige Greifswalder „sämtliche Konstellationen und Reaktionen mitgedacht und entschieden: Das Positive überwiegt“, berichtete er „Am Ende bin ich aus dem Herzen Fußballer.“ Und die Aussicht auf die Heim-EM sei nun mal „brutal interessant“.
Was am Ende ein Erfolg sein kann? „Wenn wir in der Vorrunde ausscheiden, würde ich auch keinen grünen Haken dahinter setzen. Man darf aber auch nicht so vermessen sein, dass nur der Titel ein Erfolg ist.“ Er selbst wolle freilich schon „die eine oder andere K.o.-Runde“ überstehen. Dafür braucht es wie am Dienstag seine Pässe in die Tiefe.