Essen. Die Werkself marschiert unaufhaltsam Richtung Deutsche Meisterschaft. 22 Jahre nach dem Trauma kann sie ein lästiges Stigma loswerden.
Zu den ersten voreiligen Gratulanten in dieser Saison gehörte ein Kölner Boulevardblatt. Am 11. Februar überschrieb der Express einen Kommentar unmissverständlich mit der Zeile „Herzlichen Glückwunsch zur Meisterschaft, Bayer Leverkusen!“ Am Tag davor hatte die Werkself den Abo-Meister und Verfolger FC Bayern mit 3:0 geschlagen. Es war das 31. Spiel, in dem die Mannschaft von Trainer Xabi Alonso ungeschlagen geblieben war.
Der frühere Profi von Real Madrid - und vom FC Bayern - ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken, konterte vor dem Auswärtsspiel in Köln ganz professionell mit Blick auf die Tabelle der Fußball-Bundesliga: „Es bedeutet nichts im Moment. Wir kennen den Tabellenstand, wir haben es bisher gut gemacht.“
Bayern-Profi Müller stichelt gegen Leverkusen
Die Tabelle hat sich am 24. Spieltag wieder verändert, inzwischen trennen Spitzenreiter Bayer 04 und die Münchener satte zehn Punkte. Beinahe hoffnungslos für den Verfolger, dessen Offensivspieler Thomas Müller schon eine Stichelei ins Rheinland schickte: „Von der Einstellung würde ich es so sehen: Wir wollen dem Fußballgott schon noch mal eine Chance geben, dass er Klischees beibehalten kann – es sieht aktuell nicht nach Vizekusen aus, aber wir wollen dranbleiben.“
Ob die Werkself in dieser Saison das lästige Klischee des „Ewigen Zweiten“ abschütteln kann? Vieles spricht dafür.
Ein Rückblick auf die Saison 2002: Zehn Spieltage vor Schluss war Borussia Dortmund in der BayArena zu Gast. Die Schwarz-Gelben, trotz Tabellenführung mit viel zu viel Respekt angereist, verloren die Partie mit 0:4 und den Spitzenplatz an die Mannschaft des damaligen Trainers Klaus Toppmöller.
22 Jahre ist das inzwischen her, der Fußball ist anders geworden. Damals genoss Michael Ballack im Trikot von Bayer 04 noch den Respekt, den er sich auch für die Zeit nach dem Ende seiner Karriere vorgestellt hatte, fürs Trikot-Ausziehen beim Jubeln gab es noch keine Gelbe Karte, und zum Dortmunder Stadion durfte man damals sogar offiziell „Westfalenstadion“ sagen. Da stieg am 4. Mai die Meisterfeier, weil sich Leverkusen am dritt- und am vorletzten Spieltag jeweils Patzer erlaubt hatte und der BVB sie zu nutzen wusste.
Die Bezeichnung „Vizekusen“ verdiente sich die Toppmöller-Elf aber damit, dass sie in gleich drei Wettbewerben Zweiter wurde: Im DFB-Pokal verlor Bayer 04 das Endspiel gegen Schalke mit 2:4, ein paar Tage später das Champions-League-Finale gegen Real Madrid (1:2). Ein zweifelhaftes Kunststück, das der FC Bayern zehn Jahre später wiederholte, nur mit anderen Gegnern.
22 Jahre danach sieht es so aus, als würde aus „Vizekusen“ der Meister Leverkusen. Einen Vorsprung von zehn Punkten zu diesem Zeitpunkt der Saison hat noch kein Team verspielt. Außerdem ist die Serie ungeschlagener Partien noch länger geworden: Seit nunmehr 35 Partien ist Bayer 04 ohne Pleite, und mit Ausnahme des Auswärtsspiels in Dortmund (21. April) und des Heimspiels gegen Stuttgart (27. April) warten beim Restprogramm keine Top-Teams mehr auf die Alonso-Elf.
Leverkusen spielt in dieser Saison stabil
In dieser Saison, und das dürfte der entscheidende Unterschied zur spielerisch zwar ordentlichen, im Ergebnis aber dramatisch geendeten Saison 2001/02 sein, ist Leverkusen stabil. In Partien gegen Spitzen-Mannschaften ist die Werkself ebenso souverän wie in den Derbys oder bei kniffligen Aufgaben in der Ferne.
Hinzu kommt: Der Taktgeber in der Offensive glänzt durch Leichtigkeit und Unbekümmertheit: Florian Wirtz, 20 Jahre alt, kann sein Team ohne Druck zur ersten Meisterschaft der Vereinsgeschichte führen. Anders als dem Toppmöller-Team lastet der aktuellen Werkself nicht das Stigma der stets Unterlegenen an. Zur Erinnerung: Die Vizemeisterschaft 2002 war nach 1997, 1999 und 2000 bereits die vierte zu diesem Zeitpunkt.
Eine Parallele zu der Seuchen-Saison gibt es jedoch: Leverkusen ist in drei Wettbewerben vertreten, ist im DFB-Pokal und in der Europa League noch im Rennen. Vielleicht gibt die dem Erzrivalen 1. FC Köln ja Hoffnung. Dessen Anhänger sangen im Derby am vergangenen Sonntag: „Ihr werdet nie Deutscher Meister.“ In dieser Spielzeit sieht aber alles danach aus, als würde es „Vizekusen“ nicht mehr länger geben.