Mönchengladbach. Ewald Lienen ist als Idealist ein besonderer Charakter im Profifußball. Am Dienstag wird er 70. Ein Gespräch über Sport und Werte.
Ewald Lienen kehrt zu seinen Wurzeln zurück. Von Mönchengladbach zieht er bald nach Schloß Holte-Stukenbrock, also dorthin, wo er aufwuchs und mit dem Fußballspielen begann. Für den früheren Bundesliga-Spieler und Trainer, der stets ein Rebell mit klarer Meinung war, schließt sich so rund um seinen 70. Geburtstag an diesem Dienstag ein Kreis. Im Interview blickt er zurück – und weit über den Sport hinaus.
Sind Sie glücklich mit dem, was Sie in Ihrem Leben bisher erreicht haben, Herr Lienen?
Ewald Lienen: Glücklich ist man nur dann, wenn man jeden Tag etwas macht, das einen zufriedenstellt, wenn man mit lieben Menschen zusammen ist, wenn man mit sich selbst klarkommt, wenn man in der Lage ist, sozial verträglich und respektvoll mit anderen zu kommunizieren. Ich habe sehr viel erreicht, aber gerade im Sport wird immer nur von irgendwelchen sportlichen Erfolgen gesprochen. Schon immer habe ich mich dagegen gewehrt, einen Menschen auf diese Aspekte zu reduzieren. Natürlich muss man im Sport auf Ergebnisse schauen, aber es sind Menschen, die ihn machen. Die Seele wird nicht davon ernährt, einen Titel zu gewinnen. Ich bin immer glücklich gewesen. Das Leben besteht nicht nur aus Erfolgen oder Misserfolgen, es ist immer alles gleichzeitig da. Man muss damit umgehen können. Das habe ich gelernt, und das hat mir gutgetan.
Ihre Frau berichtet in der neuen TV-Dokumentation über Ihr Leben, Sie hätten 2007 zu Ihr gesagt, dass Sie endlich Frieden mit dem Profifußball geschlossen hätten. Wie ist das konkret zu verstehen?
Ich habe immer versucht, neben dem Fußball noch andere Dinge zu tun, was aber nicht so einfach ist. Wenn man im Profifußball Trainer ist, dann ist man ständig im Einsatz, 24 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche. Wenn ich die ganze Zeit im Unfrieden gewesen finde, hätte ich das nicht so lange gemacht. Ich habe das offensichtlich zu dem Zeitpunkt zu meiner Frau gesagt, aber ich denke, dass es nur noch mal eine Zusammenfassung dessen gewesen ist, was in den Jahren davor passiert war.
Haben Sie während dieser Jahre vielleicht einen Widerspruch für sich aufgelöst?
Ich hätte auch gerne eine andere Lehrtätigkeit ausgeübt, vielleicht sogar an einer Universität. Aber als Trainer habe ich versucht, das zu kompensieren. Als Trainer ist man auch eine Führungskraft: ein Fußballlehrer. Aber jemand, der mit einer Gruppe arbeitet, hat auch eine Mitverantwortung für andere Dinge und nicht nur für Tore, Punkte, Meisterschaften. Ich glaube, dass ich vieles umsetzen konnte als Trainer, dass ich versucht habe, die einzelnen Menschen zu sehen, mit ihnen entsprechend umzugehen und ihnen zu helfen, sich weiterzuentwickeln. Auch das ist ein Teil des Lebens und des Erfolges. Allein aus sportlicher Sicht macht es Sinn, sich mit Werten zu beschäftigen, mit Fairness, mit Loyalität. Aber das gilt auch für das Leben im Ganzen. Es waren für mich befriedigende Jahre, unabhängig davon, wie viele Spiele man gewinnt.
Woher kam dieser Antrieb bei Ihnen, dass Ihnen Fußball selbst nie genug war?
Ich habe immer versucht, das ganzheitlich zu sehen. Ich wollte nicht, dass ich jetzt nur Fußball spiele und mir alles andere egal ist. Die Gesellschaft war mir immer wichtig. Ich habe den Wehrdienst verweigert, stattdessen soziale Arbeit geleistet und damit begonnen, Pädagogik zu studieren. Mit diesen Themen habe ich mich intensiv auseinandergesetzt. Ich wollte mich immer damit befassen, wie wir leben, wie andere leben und was man dazu beitragen kann, dass es allen gut geht und nicht nur mir. Das hat etwas mit Gemeinwohl zu tun, mit Rücksichtnahme auf andere Menschen und andere Generationen, auch auf anderen Kontinenten. Ich wollte mich nicht nur fragen, wie wir das nächste Spiel gewinnen oder welche Taktik wir dafür anwenden können, sondern auch darüber hinausschauen. Das war stets mein Antrieb.
Wie lässt sich dieser Anspruch mit dem Profifußball vereinbaren, der ja auch Geschäft ist, in dem Geld eine ganz große Rolle spielt?
Aber das ist ja auch in anderen Berufen so. Im Journalismus wird ja meistens auch das geschrieben, was sich am besten verkaufen lässt. Nach dem Prinzip: Only bad news are good news. Dabei könnte die Medienlandschaft auch sehr viel zu einer Verbesserung der Lebensqualität von vielen Menschen beitragen. In der Industrie werden oft Dinge produziert, die eigentlich kein Mensch braucht. Natürlich brauchen wir Arbeitsplätze, damit Menschen sich ihren Lebensunterhalt verdienen können. Aber es würde Sinn machen, wenn wir nicht alles produzieren, was in irgendeiner Form Profit abwirft und wofür den Bedarf durch teure Werbung erst noch wecken müssen und dabei natürlich wertvolle Ressourcen vergeuden. Eine gerechte Bezahlung der Menschen statt prekärer Beschäftigung ist für das Gemeinwohl einer Gesellschaft unerlässlich. Da wo ich lebe, wo ich arbeite, kann ich mich engagieren. Ob im Fußball oder anderen wirtschaftlichen Bereichen − man kann überall etwas verbessern. Selbst in einer Wohltätigkeitsorganisation können Leute Sachen machen, die nicht in Ordnung sind. Es kommt nicht auf den Bereich an, sondern darauf, was man daraus macht. Es geht aber auch darum, sich selbst weiterzuentwickeln. Das ist ein riesengroßes Ziel, das meine Fähigkeiten, meinen Charakter, meine Persönlichkeit betrifft. Das hat mich immer angetrieben.
WDR zeigt Doku am Mittwoch
- Ewald Lienen war ein torgefährlicher Linksaußen, ehe er eine Trainerkarriere einschlug. Er war aber auch immer für sein ausgeprägtes soziales und politisches Engagement wie für seinen unbändigen Willen bekannt. Der WDR zeigt am Mittwoch (23.15 Uhr) die Dokumentation „Ewald Lienen – Eine griechische Tragödie“.
- Der aktuell auch auf MagentaTV abrufbare Film beleuchtet seine Trainerstation beim griechischen Klub AEK Athen, wo Lienen gegen den Abstieg und für die eigenen Werte kämpfte. Erzählt wird eine Geschichte über Geld und Korruption in der Fußballwelt.
- Eingebettet in die Doku von Regisseur Jesper Petzke ist Lienens Lebensweg. Entstanden ist ein umfassendes Porträt mit Kommentaren seiner Frau Rosi und Weggefährten wie Rainer Bonhof und Per Mertesacker.
Die Doku ist auch eine Geschichte über Ihre Karriere, die einzelnen Episoden gehen zurück bis in Ihre Jugend, zu den Anfängen beim VfB Schloß Holte. Wie ist die Idee zu diesem Portrait entstanden?
Sie ist bei den einzelnen Sendern entstanden, die das umgesetzt haben: bei Magenta und dem WDR. Regisseur Jesper Petzke wollte ursprünglich eher eine Geschichte über AEK Athen machen, auf die er einmal gestoßen war und die ja wirklich abenteuerlich ist. Ähnliche Geschichten könnte ich auch von anderen Vereinen erzählen. Zwar nicht ganz so krass, aber ich habe alles Mögliche erlebt. AEK ist jetzt rausgegriffen worden, weil es etwas ganz Besonderes und Schräges war. Die Sender waren der Meinung, es wäre besser, wenn dort mein ganzes Leben integriert wird. Bestimmte Klubs kommen nicht vor, aber man kann dabei auch nicht komplett in die Tiefe gehen.
Einzelne Ihrer Stationen werden aber beleuchtet, zum Beispiel Borussia Mönchengladbach, der MSV Duisburg und 1. FC Köln. Zu welchem Verein haben Sie während Ihrer Karriere die stärkste Bindung oder auch größte Nähe entwickelt?
Ich fühle mich nicht an Klubs gebunden, sondern an Menschen. Ein Verein ist zwar eine Begegnungsstätte, aber dennoch ein Konstrukt, also etwas Virtuelles. Das Wichtigste ist, mit welchen Menschen man zusammenlebt und arbeitet, wie man mit ihnen umgeht, ob man Freunde hat. Die habe ich überall gefunden. Ich habe in all dieser Zeit, bei allen Klubs – mal mehr, mal weniger – Leute kennengelernt, zu denen ich auch heute noch Kontakt habe. Ich bin in diesen 18 Jahren als Spielern und 24 als Trainer sehr vielen Menschen begegnet. Das war eine unglaubliche Lebenserfahrung, die mir sehr viel gegeben hat. Ich treffe mich mit einigen Spielern, mit denen ich früher zusammengespielt habe, jetzt noch regelmäßig. Das ist jetzt auch beim VfB Schloß Holte der Fall, wo ich demnächst wieder leben werde und es dann auch wichtig ist, ein bisschen mehr zwischenmenschliche Kontakte zu haben.
Sie hatten drei Trainerstationen in Griechenland. Was hat Sie daran gereizt?
Ich habe das Land lieben gelernt, aber Olympiakos Piräus und AEK Athen hätte ich eigentlich lieber lassen sollen. Doch dann hätten wir wiederum auch keine Doku und ich hätte einige Dinge nicht erfahren. Panionos Athen hingegen war zwei Jahre wunderschön, das hat eine Riesenspaß gemacht. Ich habe generell eine Affinität zu Sprachen und wollte auch immer in anderen Ländern arbeiten. Als Spieler ist es mir leider verwehrt geblieben. Als ich auf Idee gekommen bin, woanders hinzugehen, standen Ablöseforderungen im Raum, die der jeweilige Klub nicht zahlen wollte. Auch Rumänien war eine großartige Erfahrung. Ich hatte dort zwar einen schwierigen Job, aber landschaftlich ist es an vielen Stellen traumhaft. Wir haben direkt neben dem Donaudelta gewohnt, sind mit dem Mannschaftsbus durch die Karpaten gefahren. Die Natur spielt da noch eine andere Rolle, weil das Land nicht so durchindustrialisiert ist. Die Menschen dort haben mir sehr gut gefallen, die allermeisten waren sehr bescheiden.
Zu AEK waren Sie 2012 auf dem Höhepunkt der griechischen Schuldenkrise gekommen. Der Verein hatte zum Zeitpunkt Ihrer Verpflichtung 150 Millionen Euro Verbindlichkeiten.
Ich hätte auf diese Situation wahrscheinlich nicht vorbereitet sein können. Aber wenn ich mich ein bisschen besser vorher reinbegeben hätte, dann hätte ich sehen können, dass sie 60 bis 70 Prozent der Topspieler schon verloren hatten, weil sie wussten, dass es so nicht weitergeht. Da haben sich Leute bereichert, das war schon kriminell. Da gab es einen Mann, der alle möglichen jungen Spieler nur vermittelt und verkauft hat, um selbst Provisionen zu kassieren. Spieler, von denen man wusste, dass sie sich nie durchsetzen können. Ich hatte dort 34 Spieler im Kader, die nicht die entsprechende Klasse hatten. Es war das erste und letzte Mal in meiner Karriere, dass ich auf dem Trainingsplatz ein Turnier spielen lassen konnte − mit drei Mal Elf gegen Elf (lacht). Es gab viele unzufriedene Leute, da hingen noch Berater dran und die Medien – es war unglaublich. Von AEK wusste ich vorher, dass der Klub eine ähnliche Ausrichtung in der Fanszene wie der FC St. Pauli hat. Aber wenn man dann eine derart desaströse Situation vorfindet, vor dem Hintergrund einer gigantischen Wirtschaftskrise in Griechenland, wird es sehr schwierig.
Diese Episode liegt nun gut zehn Jahre zurück. Nun feiern Sie Ihren 70. Geburtstag. Wie werden Sie diesen Tag verbringen?
Wahrscheinlich so wie immer (lacht). Ich werde aufstehen, eine halbe Stunde Sport treiben, damit ich mich fit fühle, anschließend einen Kaffee trinken und dann geht es weiter.
Wen haben Sie denn eingeladen?
Als ich mal 50 oder 60 geworden bin, hat meine Frau unglaubliche Feiern organisiert, das war sehr schön. Aber das werden wir dieses Mal sicherlich nicht machen. Wir sind jetzt auch oft in Ostwestfalen und nicht nur in Mönchengladbach. Deshalb werden wir sicherlich hier wie dort im engeren Freundes- und Familienkreis jeweils eine kleine Feier machen. Und damit ist es auch gut.