Madrid/Barcelona. Beinahe grotest, wie abhängig Real Madrid von Jude Bellingham ist seit dessen Wechsel aus Dortmund. Doch darin liegt auch eine Gefahr.

Sorge geht um in Madrid – die, dass Jude Bellingham nicht spielen könnte. Über die ganze Titelseite zeigte ihn das Sportblatt As am Dienstag mit Verband um die linke Schulter und schmerzverzerrtem Gesicht. Übertriebene Panikmache vor einem Champions-League-Gruppenmatch gegen Sporting Braga, aus dem an diesem Mittwoch (21 Uhr/Sky) ein Punkt für die vorzeitige Achtelfinal-Qualifikation reicht? Schon. Aber halt auch Abbild der Realität von Real Madrid im Herbst 2023.

Mit Bellingham geht alles. Ohne ihn geht nichts.

Trifft Bellingham, gewinnt Real – trifft er nicht, gewinnt Madrid auch nicht

Reals Saison lässt sich bislang anhand eines einfachen Parameters erzählen: Trifft Jude Bellingham, wird gewonnen. Trifft er nicht, dann nicht. Mit 13 Toren in 14 Spielen hat der Engländer fast so oft getroffen wie die übrige Mannschaft zusammen, und Madrids einzige Ausrutscher ereigneten sich just in den drei Partien, in denen er leer ausging – eine Niederlage bei Atlético, ein Remis in Sevilla und zuletzt eines zu Hause gegen Rayo Vallecano. „No Bellingham, no party“, schlagzeilte Marca danach. Die Ligaspitze ist Real jetzt erst mal los an das Überraschungsteam Girona.

Immer da, wenn es darauf ankommt: Jude Bellingham bei seinem Tor für Real Madrid im Clasico gegen den FC Barcelona.
Immer da, wenn es darauf ankommt: Jude Bellingham bei seinem Tor für Real Madrid im Clasico gegen den FC Barcelona. © AFP

Partytime war dagegen etwa der Clásico, da erzielte Bellingham beide Tore zum 2:1 beim FC Barcelona; einmal Schuss, einmal Abstauber. Oder das Auftaktmatch der Champions League gegen Union Berlin: Nachspielzeit, Gestocher, Siegtor Bellingham.

Beim BVB war Bellingham Dreh- und Angelpunkt

Und nein, es handelt sich wirklich nicht um Jobe, den jüngeren Bruder und gelernten Angreifer. Sondern weiter um Jude Bellingham – jenen Spieler, der in drei Jahren bei Borussia Dortmund zum Dreh- und Angelpunkt avancierte, dabei aber nicht mehr als eine typische Trefferquote für einen Mittelfeldspieler beitrug: 24 Tore in 132 Partien.

Die Madrider Explosion ist teils rational erklärbar. In Dortmund besetzte Bellingham in aller Regel eine Planstelle in der Zentrale. Real-Trainer Carlo Ancelotti dagegen setzt ihn konsequent als Zehner hinter den Spitzen ein. Und weil diese nach dem überraschenden Abgang des langjährigen Angriffsleaders Karim Benzema zumeist die Außenstürmer Vinícius und Rodrygo bilden, gibt es ein Vakuum in der Mitte: Dort hinein stößt Bellingham dann im Stile einer falschen Neun.

Ob dieses Revirement als ein Meisterwerk seiner Trainerarbeit gelten darf, wurde Ancelotti kürzlich gefragt. Da lächelte der einzige Coach mit vier Champions-League-Titeln und Meisterschaften in allen fünf großen Ligen Europas kurz und antwortete, es gehe einfach darum, „Spieler auf die Position zu stellen, wo sie sich am wohlsten fühlen“. Bellinghams „größte Qualität“ seien die „Bewegung ohne Ball“ und der „Antritt in den Strafraum: Je näher er dort ist, umso besser für ihn.“ Das habe er ihm anhand von Videos aus der Dortmunder Zeit dargelegt – und das habe Bellingham spontan verinnerlicht. „Er lernt sehr schnell, man muss ihm Dinge nicht oft sagen.“

Jude Bellingham erinnert an Michael Ballack

Jude Bellingham war bei Borussia Dortmund der Liebling der Massen.
Jude Bellingham war bei Borussia Dortmund der Liebling der Massen. © DPA

Schon mit 20 Jahren wirkt Bellingham so wie eine Idealversion des Typus Michael Ballack. Ein technisch beschlagener wie robuster Mittelfeldmann, der wie selbstverständlich eine Leaderrolle annimmt und sie um eine überdurchschnittliche Torgefährlichkeit ergänzt. Beim BVB mögen sie sich für alle Zeiten fragen, wie das fatale Saisonfinale gegen Mainz gelaufen wäre, hätte Bellingham nicht wegen einer Knieverletzung ausgesetzt. Und sie müssen sich fast fragen lassen, ob sie dieses famose Talent trotz der hohen Ablöse von 103 Millionen Euro (bis zu 134 Millionen inklusive Boni) nicht sogar noch unter Wert verkauft haben.

In Madrids Estadio Santiago Bernabéu jedenfalls gilt er schon als Epochenspieler und wird das „Hey Jude“ als Standardsoundtrack gesungen. Das ist der irrationale Teil seines kometenhaften Einschlags: dass er nicht eine Sekunde zu fremdeln schien, wo selbst einige der größten Spieler der Geschichte eine gewisse Eingewöhnungszeit benötigten. Etwa Zinédine Zidane, dessen Nummer 5 nun Bellingham trägt. Mit Zidanes Pirouetten vergleichen sie Bellinghams gelegentliche Kabinettstücken, mit der Vielseitigkeit des Klubheiligen Alfrédo Di Stéfano seine Allgegenwärtigkeit auf dem Platz. Die aus Dortmund bekannten Qualitäten etwa im Spielaufbau oder in der Balleroberung hat er während dem ganzen Toreschießen nämlich nicht vergessen.

Ist Real schon zu abhängig von Bellingham?

Als Schattenseite bleibt im Jahr eins von Bellingham nur die „wüste und lächerliche, für eine große Mannschaft geradezu groteske Abhängigkeit“ von einem einzigen Spieler, wie El Mundo schreibt. Und so richten sich selbst vor einem Spiel gegen Braga alle Blicke auf Bellingham. Über seinen Einsatz soll kurzfristig entschieden werden.