Budapest. Noah Lyles hat bei der Leichtathletik-WM die 100 Meter gewonnen. Er könnte die Sehnsucht nach einem Bolt-Nachfolger stillen.
Und dann ist er da. Noah Lyles, der schnellste Mann der Welt, betritt das Podium zur Pressekonferenz. Der Raum in den Katakomben des Stadions Nemzeti Atlétikai Központ ist rappelvoll mit Journalisten unterschiedlichster Herkunft. Noah Lyles gelingt es, den Raum mit seiner Ausstrahlung komplett für sich einzunehmen. Der US-Amerikaner ist ein Entertainer, ein Showman – einer, auf den die Leichtathletik so lange gewartet hat.
Seit dem Rücktritt von Usain Bolt, dem jamaikanischen Sprint-Superstar, ist die Sehnsucht der großen olympischen Kernsportart beinahe schmerzhaft geworden. Viele sind seitdem angetreten, um das Erbe der Legende fortzuführen – vergeblich, keiner hatte dieses Format. Doch jetzt ist da Noah Lyles. Dieser breit grinsende, aufgedrehte Strahlemann, 26 Jahre alt und aus sonnigen Gainesville/Florida, dem es gelingt, mit seiner Präsenz ein ganzes Stadion zu unterhalten. So wie am Sonntagabend.
Mit Leichtigkeit im 100-Meter Finale
Während seine Kollegen im 100-Meter-Finale der Leichtathletik-WM in Budapest bei der Einlaufzeremonie ernsthaft bis furchterregend schauten, sprang Lyles grinsend ins Stadion, bewegte die weit ausgebreiteten Arme nach oben und unten, forderte die Zuschauer zum Jubeln auf. Mit einer Mischung aus Leichtigkeit und unvorstellbarem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten ging er an den Start. Dass er schlecht aus dem Block kam? Egal. Nach rund sechzig Metern explodierte Lyles förmlich und schob sich an die Spitze des Feldes. „Ich habe daran geglaubt und habe durchgezogen“, sagt der neue Weltmeister nun. Titelverteidiger Fred Kerley (USA/28) hatte das Finale verpasst.
In Weltjahresbestzeit von 9,83 Sekunden gewann der US-Amerikaner vor Letsile Tebogo aus Botswana (9,88) und dem Briten Zharnel Hughes (9,88) die wichtigste, die populärste Disziplin der Leichtathletik. Kein Athlet hat mehr internationale Strahlkraft als der schnellste Mann der Welt. „Es ist einfach, mich zu vermarkten“, sagt Lyles. „Denn ich gehe da raus, ich bin aufregend, ich bin fröhlich, ich gehe auf die Leute zu.“ Er strotzt vor Selbstbewusstsein und sieht gar keinen Grund dazu, dies nicht auch allen zu zeigen.
Der Glaube an sich und seine Fähigkeiten ist immens. Wie man Weltmeister wird, wusste Noah Lyles bereits vorher. Seit 2019 dominiert er die längere 200-Meter-Distanz. In seiner Freizeit malt und rappt er. Er ist großer Fan von japanischen Anime-Comics und interessiert sich für Mode, sorgt bei Meetings mit spektakulären Outfits für Hingucker. Wäre er kein Sprinter, er wäre wohl Rapper oder TV-Moderator geworden, sagte er einmal. „Ich musste einen Weg finden, den Showman rauszulassen.“
Filmteam begleitet Lyles in Budapest
Schon jetzt wurde eine Dokumentation über ihn gedreht. In Budapest begleitet ihn ein Filmteam auf Schritt und Tritt. Doch erst mit dem Sieg über die Prestige-Strecke ist er zu einem der ganz Großen aufgestiegen. Viel „Blut, Schweiß und Tränen“ habe ihn diese Strecke gekostet. Doch Noah Lyles will mehr: „Ich bin hierhergekommen, um drei Goldmedaillen zu gewinnen.“ Die erste sei jetzt abgehakt.
Über die 200 Meter am Freitag ist er Topfavorit, am Wochenende steht dann noch die 4x100-Meter-Staffel an. Der letzte Sprinter, dem das WM-Triple gelang? Natürlich, Usain Bolt, 2015 in Peking. „Irgendwann werden die Leute auf dieses Jahr zurückblicken“, sagte Lyles voller Inbrunst, „dann werden sie sagen: Das war der Start einer Dynastie.“ Auch solche Ansagen sind es, die einen großen Champion ausmachen. Nicht nur auf den Punkt auf der Tartanbahn abzuliefern, sondern auch zu unterhalten, den Willen und den Glauben zu haben, Grenzen verschieben zu können. Noah Lyles bringt all das mit. Auch deshalb, weil ein schwieriger Weg hinter ihm liegt.
ADHS und Lernschwäche als Kind
In seiner Kindheit litt er an chronischem Asthma, Klinikaufenthalte prägten seinen Alltag, seine alleinerziehende Mutter Keisha unterrichtete ihn lange zu Hause. Als es ihm dann so gut ging, dass er eine Schule besuchen konnte, wurde er dort gehänselt. Man diagnostizierte ADHS und eine Lernschwäche. Der Sport war seine Zuflucht. „Die Schule war immer schwierig für mich“, sagt Lyles einmal. „Der Sport war definitiv mein Ausweg, wo ich hingehen konnte, wo ich gefühlt habe, dass ich toll bin.“ Hier feierte er bald gemeinsam mit seinem Bruder Josephus (25) Erfolge.
Doch immer wieder war da auch Dunkelheit. Offen spricht er darüber, dass er an Depressionen leide, er zur Therapie gehe, Antidepressiva nehme. Noah Lyles litt unter der Einsamkeit der Corona-Pandemie, der Verschiebung der Olympischen Spiele 2020 in Tokio um ein Jahr sowie dem Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd durch einen Polizisten.
Keine Superhelden ohne Probleme
Er nutzt seine Popularität, um auf das Thema mentale Gesundheit aufmerksam zu machen. „Ich habe das Gefühl, meine Schwierigkeiten zu teilen, hilft anderen“, sagte er 2022 der Los Angeles Times. „Und es hilft auch mir.“ Er hasst es, wenn Leute ihn als übermenschlich betrachten, „als wäre ich keine normale Person mit Gefühlen, Emotionen, die sich mal durch den Alltag kämpft, aber auch großen Enthusiasmus und Glück spürt“. Athleten seien keine Superhelden ohne Probleme – ihnen gelänge es nur, sie hinter sich durchzukämpfen.
Gemeinsam mit Gina Lückenkemper trainiert Noah Lyles in seiner Heimat Florida bei Lance Brauman. Er hat seinen Weg gefunden. Und aktuell scheint ihn dieser zu ungeahnten Zeiten zu führen. Über 200 Meter will er den Weltrekord von Usain Bolt (19,19) unterbieten. Noah Lyles setzt sich keine Grenzen – er glaubt fest daran, sie zu verschieben.