Frankfurt/Main. Im Interview spricht die DFB-Bundestrainerin über die Herausforderungen bei der anstehenden WM in Australien und Neuseeland.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die deutschen Fußballerinnen wenige Stunden vor ihrer Abreise zur Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland (20. Juli bis 20. August) verabschiedet. In einer Videobotschaft wünschten der 67-Jährige und seine Frau Elke Büdenbender „einen Platz ganz weit oben. Gute Reise, viel Glück – und viel Erfolg!“ Das dürfte sich auch mit den Wünschen von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg decken. Die 55-Jährige muss nach einer schwierigen Vorbereitung dafür sorgen, dass sich die Nationalmannschaft schnell eingewöhnt und gut aufgestellt ins erste Spiel am 24. Juli gegen Marokko startet. Im Interview gibt sie persönliche Einblicke und erklärt, warum es bereits in der Vorrunde knifflig für die Vizeeuropameisterinnen werden kann.
Frau Voss-Tecklenburg, erst 1991 gab es die erste Weltmeisterschaft der Frauen. Sie haben an dem Turnier in China als Spielerin teilgenommen, Welche Erinnerungen haben Sie noch?
Martina Voss-Tecklenburg: Nach einer EM, die wir 1989 ja gewonnen hatten, war die erste WM der nächste logische Schritt. Und ein Meilenstein mit vielen positiven Erlebnissen. Bei einem Training saßen auf einmal 6000 Chinesen in einem Stadion, um uns anzufeuern – wir wussten gar nicht, warum sie da waren, aber es war schön. Übrigens war auch Pelé dabei, der sagte, dass die Nummer sieben bei den Deutschen eine gute Spielerin ist. Das war ich (lacht)….
Dann haben die deutschen Fußballerinnen mit Ihnen aber das Halbfinale mit 2:5 gegen die USA und das Spiel um den dritten Platz gegen Schweden mit 0:4 verloren.
Es war ein großartiges Halbfinale mit einem Aha-Effekt für mich: Du spürst als Spielerin recht schnell, ob du noch irgendetwas bewegen kannst, aber dafür waren uns die Amerikanerinnen auch physisch viel zu überlegen. Im Spiel um Platz drei war dann die Luft raus. Ich bin da böse auf die Schulter gefallen und mit Schmerzen zurück in die Heimat geflogen. Die WM war unheimlich anstrengend, und ich hatte noch nie so viel Muskelkater, weil wir gefühlt jeden zweiten Tag gespielt haben und darauf gar nicht vorbereitet waren.
Vier Jahre später sind Sie bei der WM 1995 in Schweden mit der DFB-Auswahl dann immerhin bis ins WM-Finale gekommen…
… und haben dann in einer Wasserschlacht gegen Norwegen verloren, weil ein Schuss von Hege Riise reingerutscht ist (Endstand 0:2, Anm. d. Red.). Eigentlich war es mehr Wasserball als Fußball, so dass wir unsere spielerischen Qualitäten nicht einbringen konnten. Ich erinnere mich an diese ersten Turniere wirklich mit einem Lächeln, auch wenn manches vielleicht amateurhaft anmutete.
Martina Voss-Tecklenburg: "Es wird sich zeigen, ob dieser Schritt vielleicht zu früh kommt"
Nun kommt eine WM 2023 in Australien und Neuseeland, bei der erstmals 32 Nationen mitspielen. Ist der Fußball bei den Frauen denn schon so weit?
Das weiß ich auch noch nicht so richtig. Die Fifa ist für die WM 2019 in Frankreich schon auf 24 Teams hochgegangen – ich bin selber gespannt, wie jetzt die Ergebnisse in der Gruppenphase sein werden, weil es ein paar Nationen mit sportlichem Nachholbedarf gibt. Es wird sich zeigen, ob dieser Schritt vielleicht zu früh kommt, denn wir hatten einerseits vor vier Jahren schon heftige Resultate mit einem 13:0. (Weltmeister USA gegen Thailand im ersten Gruppenspiel, Anm. d. Red.). Andererseits liegt in einer Teilnahme für jedes Land auch die Chance, eine Entwicklung einzuleiten, um den Frauen- und Mädchenfußball weltweit zu fördern.
Ihre Vorrundengruppe mit Marokko, Kolumbien und Südkorea scheint eine Wundertüte zu sein. Doch haben die holprigen Testspiele gegen Vietnam (2:1) und Sambia (2:3) gezeigt, dass die WM kein Selbstläufer wird. Fühlen Sie sich jetzt in den Warnungen bestätigt?
Auf uns kommen drei komplett unterschiedliche Mannschaften zu, vor denen ich deshalb warne, weil es keine Gegner sind, die man bei einer WM heutzutage mal eben so besiegt. Marokko ist Neuling und dann machen sie gleich das erste Spiel gegen Deutschland, weshalb sie alle Emotionen auf den Platz lassen werden. Dann haben wir die zweite Partie gegen Kolumbien: Das ist mit ihrer Zweikampfhärte und Mentalität eine richtig gute Mannschaft, die den offenen Schlagabtausch suchen wird. Sie haben viel investiert in die Entwicklung, waren nicht umsonst bei den Nachwuchsturnieren gut dabei und haben in einem Freundschaftsspiel gegen Frankreich 2:0 geführt (Endstand 2:5, Anm. d. Red.). Und dann haben wir am Ende noch Südkorea. Ein technisch gutes Team mit einem Trainer Colin Bell, der den deutschen Fußball mit allen Facetten gut kennt.
Sie beziehen in Wyong ein abgelegenes Quartier rund 90 Kilometer nördlich von Sydney. Machen Sie nicht denselben Fehler wie die Männer bei der WM in Katar? Die Gefahr des Lagerkollers ist doch nicht zu leugnen, oder?
Ich weiß nicht, ob die Männer schlechte Erfahrungen gemacht haben, ich habe kein Mäuschen spielen dürfen (lacht). Wir haben ein gutes Umfeld, in dem wir uns wohlfühlen. Fakt ist, dass wir am Tag vor jedem Spiel in einem Transferhotel sind – und damit direkt in Großstädten wie Melbourne, Sydney oder Brisbane. Und wir haben ja vorher die Spielerinnen gefragt. Als erste Antwort, was ihnen wichtig ist kommt immer: ein kurzer Weg zum Trainingsplatz. Das ist die absolute Priorität! Wir haben uns viele Unterkünfte in Hotels mit 500 Zimmern in den Metropolen angesehen, wo es keine Rückzugsorte gab. Und da mussten wir Kompromisse finden. Ich denke, wir haben ein Quartier mit vielen Vorteilen, aber auch einigen Nachteilen. Dieses Team hat doch genau die Stärke, keinen Lagerkoller zu empfinden.
"Bei dieser WM melden acht, neun Nationen berechtigte Ansprüche an"
Bei der EM in England spielten die Spielerinnen frei von Erwartungsdruck, groß auf. Haben Sie keine Bedenken, dass der Rucksack zu schwer wird, wenn Sie selbst vom Titel sprechen?
Wir wollen mit den Aufgaben wachsen, aber natürlich macht es etwas mit einem, wenn man mehr zu verlieren hat als zu gewinnen. Vor der EM war es ja wirklich so, dass wir schwer einzuschätzen waren. Ich will uns bestimmt kein Alibi geben, aber bei dieser WM melden acht, neun Nationen berechtigte Ansprüche an, um den Titel zu spielen – und diese Qualität haben wir auch.
Sie haben mit der EM ganz viel angestoßen: Länderspiele vor mehr als 20.000, 30.000 Zuschauern zur Prime-Time, mehrere Highlight-Spiele in der Bundesliga vor großer Kulisse, den Besucherschnitt im Liga-Alltag verdreifacht und die Wahrnehmung deutlich erhöht. Also spricht alles für einen nachhaltigen Effekt?
Ich habe das erste Mal durch das vergangene Jahr das Gefühl, dass sich alles so zusammenfügt, dass ein stabiles Fundament entstanden ist. Wir kommen ja aus kleinen, teils reinen Frauenfußballvereinen, aber jetzt haben wir große Lizenzklubs, in denen der Frauenfußball teilweise auf einem richtig guten Niveau integriert ist. Dieses Rad wird nicht zurückgedreht. Die Zuschauer kommen gerne zu uns, weil es auch eine andere Atmosphäre ist. Familiär und nah, aber herausragende Leistungen bleiben die Basis.
Das betonen Sie.
Wenn die Spielerinnen in den Vereinen und in der Nationalmannschaft nicht auf dem Platz so gut agiert hätten, wären die Leute nicht gekommen. Aber natürlich haben wir immer noch ganz viele Themen, die nicht selbstverständlich sind. Sonst hätten wir uns nicht so lange über eine TV-Vermarktung einer Frauen-WM unterhalten: Im Männerfußball hätte es diese ungeklärte Situation so lange nicht geben! Daran sehen wir noch das Verbesserungspotenzial. Wir hinken immer noch 50 Jahre hinter dem Männerfußball hinterher. Wir haben in kurzer Zeit sehr, sehr viel erreicht, aber wir haben immer noch viel an der Basis zu tun, wenn ich an die Talentgerechtigkeit oder die weitere Professionalisierung in unseren Ligen und in unseren Vereinen denke. Die einen sagen auch, wir müssen die Liga größer machen, da sage ich aber: Das hilft aktuell noch nicht, weil wir schon genug Mannschaften mit Problemen haben, die entsprechenden Leistungen zu bringen. Wir dürfen das Rad nicht überdrehen.
Der Boom des Frauenfußballs begründet sich auch darauf, dass die Protagonisten als überaus authentisch wahrgenommen werden. Sie gehen da als Vorbild voran und lassen in einer NDR-Dokumentation Ihren ehemaligen Freund und Trainer vom KBC Duisburg, Jürgen Krust, Ihre ehemalige Lebensgefährtin Inka Grings als auch Ihren Ehemann Hermann Tecklenburg und Ihre Tochter Dina zu Wort kommen. Wollten Sie zeigen, dass die Welt bunter ist als viele denken?
(lacht) Ich habe in diesem ganzen Doku-Prozess gar nicht so sehr darüber nachgedacht, wie das jetzt vielleicht andere sehen. Ich bin halt ein sehr offener Mensch, der mehrheitlich zu dem steht, was er in seinem Leben tut. Ich bin stolz darauf, dass ich sowohl mit Jürgen als auch mit Inka oder heute mit meinem Mann Hermann respektvoll und freundschaftlich miteinander umgehe, obwohl wir unterschiedliche Lebenswege gegangen sind. Auch auf diese Menschen kann ich mich jederzeit verlassen, denn wir haben eine Verantwortung übernommen: Jürgen und ich für ein Kind, Inka und ich für andere Dinge und Hermann für ein Unternehmen. Natürlich war es auch mal schwierig, aber wenn die Personen nicht wertvoll wären, hätte ich nicht diese Zeit mit ihnen verbracht.
Diese Offenheit…
… hat sich irgendwie aus der Story ergeben, wofür ich Patrick Halatsch (Filmemacher vom NDR, Anm. d. Red.) bei der Umsetzung danken möchte. Natürlich ist die Welt viel bunter – und bei mir gibt es diese Lebenslinien. Ich wollte damit auch zum Ausdruck bringen, dass Türen woanders aufgehen, wenn sie hier vielleicht zugehen. Neben der inneren Stärke braucht es dazu Menschen, die einen auffangen, wenn es einem nicht so gut geht.
Bundestrainerin Voss-Tecklenburg: "Ich bin privilegiert"
Woher kommen diese Werte?
Sie kommen von meiner Familie. Meine Eltern haben Wert darauf gelegt, dass wir ‚danke‘ und ‚bitte‘ sagen. Sie haben fünf Kinder unter schwierigen Bedingungen großgezogen (der Vater hat bei Thyssen in Wechselschicht gearbeitet, die Mutter neben der Erziehung noch in einem Kindergarten geputzt, Anm. d. Red.). Da war Verlässlichkeit gefragt. Jeder ist für den anderen da. Heute möchte ich an meine Familie etwas zurückgeben, weil ich privilegiert bin. Ich kann immer nur wieder sagen: Ich weiß genau, was mir dieser Sport gegeben hat. Ich bin über den Fußball zu einer Persönlichkeit geworden.
Die frühere Bundestrainerin Silvia Neid war im Bezug aufs Privatleben gegenüber den Medien nicht so offen wie Sie.
Das ist auch komplett in Ordnung.
Wie ist denn der Austausch mit der Leiterin der Abteilung Trendscouting Frauen- und Mädchenfußball? Silvia Neid wurde als Co-Trainerin und Bundestrainerin schon Weltmeisterin.
Vielleicht wäre es eine gute Idee, Silvia noch mitzunehmen – dann steigen unsere Chancen, Weltmeisterinnen zu werden (lacht). Sie unterstützt uns extrem darin, Turniere und Trends im internationalen Frauenfußball zu analysieren. Unser Austausch ist total hilfreich. Als Silvia in der Verantwortung stand, war es natürlich eine andere Zeit. Ich glaube, ich wäre vor 20 Jahren als Trainerin nicht viel anders gewesen…
Sie sind jetzt schon fünf Jahre Bundestrainerin. Haben Sie darin Ihren Traumjob gefunden?
Ich bin super stolz, super privilegiert. In dem, was ich am liebsten mache, nämlich Fußball – darf ich so viel erleben. Erst lange als Spielerin, jetzt als Trainerin. Trotzdem bin ich gut damit gefahren, mir gewisse Dinge offen zu lassen, weil sich Lebenssituationen ganz schnell ändern können. Nehmen wir das Worst-case-Szenario: Wir scheiden im Achtelfinale bei der WM aus, und die Leute machen sich Gedanken, ob Martina wirklich noch die richtige Bundestrainerin ist. Ich bin nicht naiv, dass es nicht auch in eine andere Richtung gehen kann. Oder ich stelle in einigen Jahren fest, dass ich nicht mehr den gleichen Impuls geben kann. Die Dinge nutzen sich vielleicht auch mal ab. Da versuche ich wachsam zu bleiben.
Hansi Flick hat einmal gesagt, der Martina würde er alles zutrauen. Also auch einen Job im Männerfußball. Wäre das was für Sie?
Ich würde mir immer alles anhören. Völlig klar. Aber ich kann gar nicht sagen, was kommt denn dann, wenn ich 60 bin. Derzeit stehe ich immer noch am liebsten auf dem Trainingsplatz. Vielleicht will ich bestimmte Dinge irgendwann aber gar nicht mehr. Ich habe auch noch ein Privatleben, das mir wichtig ist.