Warschau. Nach der 0:1-Niederlage in Polen steigt der Druck auf Hansi Flick, Trainer der deutschen Nationalmannschaft. Siege müssen her.
Die Zeiten bei Bayer Leverkusen, in denen Rudi Völler nach solchen Auftritten losgepoltert hätte, wahlweise um seine Mannschaft aus der Schusslinie zu nehmen oder sie aufzurütteln, sind noch nicht so lange her. Am Freitagabend aber wollte selbst der 63-jährige neue Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes besser nichts sagen. Völler stampfte mit ernstem Blick durch den Umlauf des Warschauer Nationalstadions, dicht vorbei an den Sponsorentafeln der polnischen Nationalmannschaft – und somit auf Sicherheitsabstand zu den deutschen Reportern, um ja nicht die 0:1 (0:1)-Niederlage der DFB-Elf beim Nachbarn erklären zu müssen.
Womöglich hätte Völler nach dem nächsten biederen Kick den einen oder anderen Ansatz gefunden. Bundestrainer Hansi Flick hingegen wirkte mal wieder ziemlich ratlos. „Wir sind in einem Prozess“, wiederholte Flick gebetsmühlenartig, was er schon seit mehreren Tagen vermitteln möchte, seit dem besorgniserregenden 3:3 in Bremen gegen die Ukraine. „Es ist ein langer Weg, aber wir haben noch genug Zeit“, meinte Flick. „Wir werden nächstes Jahr eine überzeugende Mannschaft haben.“
Nur vier Siege in den vergangenen 15 Spielen
Noch ist dies bei weitem nicht der Fall. Das 0:1 in Warschau war das dritte sieglose Spiel in Serie. In den vergangenen 15 Partien gelangen nur vier Erfolge. Ein Jahr vor der Europameisterschaft im eigenen Land befindet sich das Aushängeschild des größten Sportfachverbandes der Welt weiterhin in einem kritischen Zustand – und muss am Dienstagabend in Gelsenkirchen (20.45 Uhr/RTL) gegen Kolumbien den Abwärtstrend dringend stoppen, um die Sommerpause nicht in einer Sinneskrise zu beginnen.
Wie konkret, wann und mit welchen Spielern irgendwann gar Aufbruchstimmung aufkommen kann? Elementare Frage, auf die der 58-Jährige noch immer keine Antworten parat hat. Stattdessen flüchtet sich Flick mehr und mehr in Durchhalteparolen: „Wir sind in einer Phase, die nicht ganz so einfach ist, aber wir werden daraus kommen.“
Beim Gegentor stimmt die Zuordnung überhaupt nicht
Im Vergleich zum Remis gegen die Ukraine nahm Flick gleich neun Änderungen in der Startelf vor, schickte seine Mannschaft allerdings erneut in einer Dreierkette auf den Rasen. Die Formation, Flicks Experiment in dieser Länderspiel-Phase, stand diesmal sicherer – wurde aber von den Polen, die nach der Pause kräftig durchwechselten und beispielsweise Star-Stürmer Robert Lewandowski für das Qualifikationsspiel am Dienstag in Moldau schonten, nie ernsthaft geprüft. Das Siegtor erzielte Jakub Kiwior (31.) nach einer Ecke, bei der die Zuordnung der DFB-Elf im Strafraum überhaupt nicht stimmte – bezeichnend. „Es fühlt sich so an, als sei es für den Gegner momentan sehr leicht, gegen uns Tore zu schießen“, gestand Mittelfeldspieler Julian Brandt.
Vorwerfen lassen musste sie sich die Mannschaft jedoch vor allem, dass ihr auf der anderen Seite des Spielfeldes die Ideen fehlten. „Zu behäbig, unkreativ“, sei der Auftritt vor allem in der ersten Halbzeit gewesen, fasste Joshua Kimmich zusammen. Insgesamt 26 Schüsse gaben die deutschen Profis auf das polnische Tor mit dem starken Schlussmann Wojciech Szczesny ab. Eine deutliche Steigerung war das zwar gegenüber dem Auftritt am Montag in Bremen. Was jedoch fehlte waren die zwingenden Aktionen im Strafraum, ein echter Plan, um Polens Abwehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es blieb ein Hoffen auf Einzelaktionen: Viel steht und fällt bei dieser DFB-Elf mit der Kreativität ihrer Ausnahmekönner wie Jamal Musiala, Florian Wirtz und Kai Havertz. „Wir müssen momentan aufpassen, dass wir nicht zu träge werden“, befand Brandt, der dann eine bemerkenswert treffende Analyse abgab: „Das Spiel ist ein bisschen zu langsam, wir brauchen zu viele Kontakte und lassen den Gegner nicht laufen. Wir sind in einem Strudel, in dem wir echt viel Energie brauchen, um vorne ein Tor zu schießen. Der Drang, der Wille, in den Strafraum zu gehen, fehlen – aber natürlich auch die Gier, am anderen Strafraum zu verteidigen. Das ist alles träge, wir müssen Spritzigkeit reinkriegen.“
Der Druck auf Bundestrainer Hansi Flick steigt
Der Druck dabei steigt vor allem auf Hansi Flick. Das Team würde es nicht belasten, dass der Bundestrainer medial in Frage gestellt wird, meinte Kapitän Kimmich. „Ich hatte bisher nicht das Gefühl“, sagte der Mittelfeldspieler von Bayern München. „Ich hoffe, dass es ihn auch nicht belastet, weil wir als Mannschaft stehen hinter ihm.“ Doch ein Jahr vor dem Turnier im eigenen Land fehlt derzeit die Phantasie, wie Flick Lösungen für die diversen sportlichen Baustellen der Nationalelf finden möchte. Eine vierte verkorkste Großveranstaltung in Serie darf sich der DFB nicht leisten. „Die Lage ist todernst“, klagte Linksverteidiger Robin Gosens.
Sich darauf zu verlassen, dass es in einem Jahr schon irgendwie laufen wird, weil Deutschland ja eine Turnier-Mannschaft sei – nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre kann das uralte Selbstverständnis nun keine ernsthafte Option mehr sein. Kimmich erinnerte daran, dass Weltmeister Argentinien und der amtierende Europameister Italien „nicht erst in der Vorbereitung guten Fußball gezeigt hätten, sondern schon ein Jahr davor sehr gute Ergebnisse erzielt und kaum ein Spiel verloren“ hätten. „Das muss auch unser Ziel sein, damit müssen wir nun anfangen“, forderte der 28-Jährige.
Gegen Kolumbien muss ein Sieg her
Dass dies nicht so leichtgetan wie gesagt ist, sah auch Kimmich ein. Gegen den Oman (1:0), Costa Rica (4:2) und Peru (2:0) – das waren die einzigen Siege dieser Länderspielsaison. Am Dienstag erwartet die deutsche Mannschaft in Gelsenkirchen gegen Kolumbien ein Gegner, der höher einzuschätzen ist als die genannten Drei. „Wir brauchen Ergebnisse“, forderte Flick. Noch so eine Durchhalteparole an diesem tristesten Fußball-Abend von Warschau.