Hagen. 15 Kilo ist der Holzfäustel schwer, der in Mahlers 6. Sinfonie zum Einsatz kommt. Darum traut sich das Publikum kaum, zu klatschen.

Über den Hammer hat sich Gustav Mahler viele Gedanken gemacht. Als erster Komponist verwendet er das Werkzeug in einer Sinfonie. Dumpf soll er klingen, kurz und kraftvoll, aber auf keinen Fall metallisch oder nachhallend, dafür so erschütternd, als würde das Schicksal selbst anklopfen. Seither ist Mahlers „Sechste“ die Sinfonie mit dem Hammerschlag. Die Hagener Philharmoniker spielen das riesige, anderthalbstündige Werk jetzt zusammen mit dem Sinfonieorchester Münster vor einem atemlos begeisterten Publikum: ein großer sinfonischer Abend, der belegt, wie bewusstseinsverändernd Musik sein kann.

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Die Kooperation mit den Sinfonieorchestern in Münster und Bielefeld ermöglicht den Hagener Philharmonikern, Werke aufs Programm zu setzen, die mit den eigenen, inzwischen beschränkten Ressourcen nicht mehr realisierbar sind, die das Publikum aber gleichwohl hören möchte. Denn die große Sinfonik adressiert ja unmittelbar an jene Schichten, für die Musik nicht nur Unterhaltung ist, sondern geistige und seelische Auseinandersetzung mit der Welt.

Für den Klang ist nicht alleine das Material des Hammers entscheidend, sondern, wo er draufschlägt. In der Praxis hat sich gezeigt, dass es am besten klingt, wenn der auf eine Holzkiste rauscht.
Heiko Schäfer - Soloschlagzeuger Philharmonisches Orchester Hagen

Die „Sechste“ ist im Prinzip ein Angsttraum im XXXL-Format. Knapp 100 Musikerinnen und Musiker schickt Mahler auf die Suche nach Erlösung durch Tongebirge und Klangschluchten - vergebens. Es geht nicht gut aus. Die kleine Trommel grundiert das gewaltige Opus mit ihrem Rhythmus, doch sie ruft nicht zum fröhlichen Voranschreiten, sondern schnarrt in böser Vorahnung. Der Hagener Generalmusikdirektor Joseph Trafton legt seiner Interpretation ein sehr flottes Tempo zugrunde. So klingt die Partitur häufig wie der Soundtrack zu einem Horrorfilm, dicht, atmosphärisch, voller Rätsel und Geheimnisse und überaus passend zu den Ängsten unserer Epoche. Diese psychologische und direkt aufs limbische System zielende Herangehensweise hat zur Folge, dass das Publikum konzentriert und ruhig wie selten lauscht.

Das Grauen lauert in der Tiefe

Zu hören gibt es viel, denn Gustav Mahlers Kunst besteht darin, die lineare Zeitschiene außer Kraft zu setzen und parallele Ereignisrealitäten zu etablieren. Dafür lässt er Instrumente sprechen. Die Herdenglocken zum Beispiel stehen für seine Sehnsucht nach Transzendenz, nach dem Kontakt mit dem Himmel. Flöten, Klarinetten, Oboen und Fagotte lassen eine Volkslied-Welt anklingen, die einfach und unverdorben, aber verschwunden ist. Harfen und Celesta symbolisieren den Wunsch, aus dem Lärm der Welt auszusteigen, Tuba und Posaune stören die Idylle, sie sind das Grauen, das in der Tiefe lauert. Auch im zweiten und dritten Satz erfüllen sich die Erlösungsversprechen von Gebet und Volkslied nicht, im Gegenteil, sie verlieren sich in dem verzerrten Marschrhythmus.

Die Hagener und Münsteraner Musiker spielen mit höchster Konzentration und viel Herzblut. Das Werk verlangt allen Interpreten auf der Langstrecke viel ab, weil es trotz der gewaltigen Besetzung stellenweise sehr durchsichtig angelegt ist und immer wieder kleine Soli aufblitzen.

Den schwersten Job im Wortsinne hat zweifelsohne der Hagener Soloschlagzeuger Heiko Schäfer. Er muss seinen Kollegen und dem Publikum zeigen, wo der Hammer hängt. Das wuchtige Gerät besteht aus Holz, ist rund 15 Kilo schwer und wird im Schlusssatz zweimal eingesetzt. Heiko Schäfer steht von der kleinen Trommel auf, hebt den Hammer hoch und lässt ihn dann taktgenau auf eine Holzkiste knallen. „Für den Klang ist nicht alleine das Material des Hammers entscheidend, sondern, wo er draufschlägt. In der Praxis hat sich gezeigt, dass es am besten klingt, wenn der auf eine Holzkiste rauscht, so eine Art Speedmeter-Würfel. Dann klingt es dumpfer, resonanter.“

Eigentlich sollte der Schicksalshammer dreimal geschwungen werden. Doch der abergläubische Mahler strich den dritten Schlag aus Angst, der könnte sein eigenes Todesurteil einläuten. Der Hammer kann bei allem Wumms die Partitur nicht aus ihrem Angsttraum wecken, und ebensowenig der Choral der Blechbläser. Spätestens an dieser Stelle fragt man sich, ob Mahler hier im Jahr 1903 persönliche Dämonen bannen wollte, oder ob er prophetisch und visionär die Musik des kommenden, des 20. Jahrhunderts aufgeschrieben hat, das vom Schnarren der Kriegstrommel von Katastrophe zu Katastrophe getrieben wurde.

Winzige Hoffnungsschimmer glitzern im Finale hier und da, etwa, wenn ein kleines Geigensolo mit Harfe und Celesta zusammengeführt oder wenn der Choral der tiefen Blechbläser gegen den verblassenden Volkston der Hörner geschnitten wird. Noch einmal bäumt sich das riesige Orchester in einem gewaltigen Kraftakt auf, wunderbar in der Spannung gehalten von Maestro Joseph Trafton. Und dann. Stille.

Das verzauberte Publikum traut sich kaum zu applaudieren, klatschht bald aber im Stehen, dankbar für einen großen und tief bewegenden Abend.