Paderborn/Essen/Velmede. 1954 mutmaßlich die erste Tat: Bistümer Paderborn und Essen rufen Betroffene und Zeugen im Fall Franz und Paul Hengsbach auf, sich zu melden.

Die Schockwellen dürften selbst St. Peter in Rom zum Erzittern bringen. Ein katholischer Kardinal und Bischof, ein Denkmal der Nachkriegskirchengeschichte, erweist sich zusammen mit seinem Bruder als mutmaßlicher Missbrauchstäter. Nicht als Vertuscher wohlgemerkt, sondern als Täter.

Die Schwere der Vorwürfe und ihre Begründetheit sowie die Sorge, dass es außer den bekannten Vorwürfen noch ein Dunkelfeld gibt, führen dazu, dass das Erzbistum Paderborn und das Bistum Essen mit einer außergewöhnlichen Pressemitteilung zu Kardinal Franz und Paul Hengsbach aus dem sauerländischen Velmede an die Öffentlichkeit gehen.

Normalerweise halten sich die Generalvikariate mit Angaben zu den kirchlichen Tätern äußerst bedeckt. Aber: „Die heutige Kenntnis von weiteren Vorwürfen gegen Franz Hengsbach im Bistum Essen sowie die im Kontext der gemeinsamen Beschuldigung erfolgte Überprüfung der Personalakte von Paul Hengsbach im Erzbistum Paderborn erhöhen die Plausibilität früherer Vorwürfe und ziehen die damalige Einschätzung der Fälle in Zweifel. Die Bistumsleitung hat aus diesem Grund entschieden, die Sachverhalte, soweit die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen es erlauben, öffentlich zu machen“, so heißt es in der Mitteilung.

Bisher drei Vorwürfe

Gegen Franz Hengsbach liegen zwei Vorwürfe aus Essen und einer aus Paderborn vor; gegen Paul Hengsbach zwei Vorwürfe aus Paderborn. Beide Brüder Hengsbach, so lautet der Vorwurf, sollen im Jahr 1954 eine damals 16-Jährige missbraucht haben. Diese Beschuldigungen meldete die Frau im Jahr 2011 an den damaligen Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums Paderborn. Kardinal Franz Hengsbach starb im Jahr 1991; sein jüngerer Bruder, der Diözesanpriester Paul Hengsbach, bestritt im Juli 2011 bei einer Befragung im Generalvikariat die Vorwürfe „vehement“, so das Erzbistum.

„Die Beschuldigungen wurden aufgrund der Gesamtumstände im Ergebnis als nicht plausibel bewertet, wenngleich angemerkt wurde, dass sich die mutmaßliche Betroffene an die äußeren Umstände genau erinnere.“ Der Fall ging nach Rom an die Kongregation für Glaubenslehre, und die entschied, aufgrund des zur mutmaßlichen Tatzeit geltenden Strafrechts kein Strafverfahren einzuleiten. Das Erzbistum leitete den Antrag auf Anerkennung des Leids der Betroffenen nicht an die zentrale Koordinierungsstelle bei der Deutschen Bischofskonferenz weiter. Der Sachstand wurde dem Essener Bischof Franz-Josef Overbeck mitgeteilt.

Schwerer Fehler

Das Erzbistum Paderborn bewertet dieses Vorgehen heute als schweren Fehler: „Aus heutiger Perspektive und nach erneuter Prüfung des Personalaktenbestands von Paul Hengsbach, die mittlerweile auch durch Mitglieder der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Erzbistum Paderborn erfolgt ist, muss die damalige Plausibilitätsbeurteilung leider deutlich in Frage gestellt werden.“ Denn nach Aktenlage habe bereits ein Jahr früher, 2010, eine weitere Frau eine Beschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs gegen Paul Hengsbach erhoben. In einer darauffolgenden Befragung habe dieser ebenso widersprochen. „Der Fall wurde seinerzeit als nicht im Rahmen der damals gültigen Verfahrensbestimmungen greifbar eingestuft. Der Kongregation für die Glaubenslehre wurde er nicht vorgelegt“, heißt es in der Mitteilung. Die Betroffene jedoch beschwerte sich. Der Fall wurde erneut geprüft; 2019 wurde ein Antrag auf Anerkennung des Leids und 2022 ein Folgeantrag bei der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen eingereicht und positiv entschieden.

Das Erzbistum beurteilt dieses Vorgehen im Nachhinein ausgesprochen selbstkritisch, denn es führte zu doppeltem Leid für die Betroffenen: „Wären die beiden Paul Hengsbach betreffenden Beschuldigungen seinerzeit miteinander verknüpft betrachtet worden, hätte dies möglicherweise zu einer anderen Bewertung der Vorwürfe im Sinne der beiden betroffenen Frauen geführt. So liegt es aus heutiger Sicht nahe, dass den Frauen nicht nur Unrecht durch die Missbrauchserfahrung durch Diözesanpriester des Erzbistums, sondern auch Leid durch den Umgang mit ihnen und ihren berechtigten Anliegen widerfahren ist. Sofern die beiden betroffenen Frauen dies zulassen, möchte das Erzbistum Kontakt zu ihnen aufnehmen.“

Erzbistum selbstkritisch

Neu aufgerollt wurden die Fälle, als das Bistum Essen im März 2023 um die Einsicht in den Personalaktenbestand von Franz Hengsbach aus der Paderborner Zeit bat. Der Essener Interventionsstab untersuchte zwei Missbrauchsvorwürfe gegen Hengsbach aus dessen Zeit als Gründungsbischof des Ruhrbistums.

Im Oktober 2022 hatte sich eine Person beim Interventionsbeauftragten des Bistums Essen gemeldet und angegeben, dass sie im Jahr 1967 einen sexuellen Übergriff durch Bischof Hengsbach erlitten habe. Als Ruhrbischof Overbeck im März 2023 davon erfuhr, veranlasste er weitere Nachforschungen. In einem weiteren Fall habe die betroffene Person 2014 den Vorwurf auf eigene Initiative zurückgezogen. Auch die Essener entschieden sich, die Untersuchungen publik zu machen. Ihm sei bewusst, „was diese Entscheidung, die ich nach gründlicher Abwägung der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnisse getroffen habe, bei vielen Menschen auslösen wird“, betont Bischof Overbeck angesichts der großen Bedeutung, die der Gründerbischof des Ruhrbistums für viele Kirchenmitglieder im Bistum Essen und für die ganze Region hat.

Noch mehr Opfer befürchtet

Die Befürchtung liegt nahe, dass die Betroffenen, die sich bisher gemeldet haben, nicht die einzigen Opfer der Brüder Hengsbach sind. Daher rufen das Bistum Essen und das Erzbistum Paderborn weitere Betroffene und Zeugen auf, sich zu melden. „Ich hoffe, dass es uns bei allen Schritten, die jetzt anstehen, vor allem gelingen wird, stets die Perspektive der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen“, hebt Bischof Overbeck hervor. Das Erzbistum Paderborn unterstreicht: „Fälle wie die hier beschriebenen zeigen, dass der Aufarbeitungsprozess ebenso schmerzlich wie notwendig ist. Das Erzbistum dankt allen an diesem Prozess beteiligten Personen und Gremien dafür, dass sie mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten zur Aufklärung und damit auch unmittelbar zur Prävention von sexualisierter Gewalt beitragen. Besonders viel Mut und Überwindung kostet dieses Mitwirken die Betroffenen selbst. Doch ihre Meldungen sind zentral wichtig für den Aufarbeitungsprozess“, so die Mitteilung aus Paderborn.

Die Brüder kommen aus Velmede

Franz Hengsbach wurde 1910 in Velmede geboren und 1937 zum Priester geweiht. 1948 wurde er Leiter des Erzbischöflichen Seelsorgeamtes des Erzbistums Paderborn. Er wurde zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken gewählt und 1953 in Paderborn zum Weihbischof geweiht. Am 18. November 1957 wurde Hengsbach zum Bischof des neu gegründeten Bistums Essen berufen. 1988 ernannte Papst Johannes Paul II. ihn zum Kardinal. Sein Rücktrittsgesuch nahm der Papst erst mit fünf Jahren Verspätung im Februar 1991 an. Nach schwerer Krankheit starb Hengsbach am 24. Juni 1991 in Essen. Von den Katholiken im Bistum Essen wurde Hengsbach, der ein Stück Kohle in seinem Bischofsring trug, wie ein Heiliger verehrt. Der konservative Kardinal entzog aber auch der Theologieprofessorin Uta Ranke-Heinemann 1987 die Lehrerlaubnis. Persönlichen Mut bewies Hengsbach 1971, als er das Lösegeld an die Entführer von Teo Albrecht übergab. Paul Hengsbach wurde 1927 in Velmede geboren und 1952 in Paderborn zum Priester geweiht. Er war Pfarrer im ostwestfälischen Langenberg und starb dort am 4. November 2018.