Lüdenscheid/Berlin. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis die A45 wieder durchgängig befahrbar sein wird. Jetzt gibt es neue Ideen für die Übergangszeit.

Vor dem Hintergrund der wahrscheinlich noch mindestens drei Jahre lang andauernden Sperrung der Autobahn 45 bei Lüdenscheid hat der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Johannes Vogel eine Freiheitszone Sauerland ins Gespräch gebracht. Mit ihr könne die vom Debakel der wichtigen Nord-Süd-Achse betroffene Wirtschaft der Region angekurbelt werden, sagte Vogel dieser Zeitung. Er vertritt für die FDP Teile des Märkischen Kreises und des Kreises Olpe im Bundestag und fungiert dort auch als Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Partei.

„Der Aufbau von Freiheitszonen steht auf Betreiben der FDP im Koalitionsvertrag“, sagte der 41-Jährige. „Es geht darum, in bestimmten Regionen Experimentierräume zu schaffen, in denen innovative Technologien, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle erprobt werden können.“ Das könne durch weniger Regulierung und weniger Bürokratie ermöglicht werden. So erhalte die Wirtschaft im Sauerland mehr Spielraum für unternehmerische Tätigkeit.

Studie beziffert wirtschaftlichen Schaden pro Tag auf eine Million Euro

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) stehe nun in der Pflicht, die konkreten Rahmenbedingungen einer solchen Freiheitszone auszuarbeiten. „Für das Sauerland mit der Sondersituation A 45 kann ich mir eine Umsetzung gut vorstellen. Ich werde das weiter vorantreiben. Das wäre jedenfalls ein großer Wurf“, sagte Vogel.

Die Autobahn 45 ist bei Lüdenscheid seit Dezember 2021 gesperrt. Einer Studie zufolge beträgt der gesamtwirtschaftliche Schaden pro Sperrungstag eine Million Euro. Außer dem Speditionsgewerbe leiden vor allem Industrie und Handwerk unter der Situation, aber auch Handel, Schulen und Behörden.

Die Südwestfälische Industrie- und Handelskammer (SIHK) verabschiedete bei ihrer Vollversammlung eine Resolution, in der sie Land und Bund auffordert, die durch die A45-Sperrung verursachten wirtschaftlichen Nachteileauszugleichen. So sollen etwa die Fördersätze im Regionalen Wirtschaftsförderungsprogramm (RWP) erhöht sowie für die Branchen Handel und Dienstleistungen geöffnet werden. Zudem soll das Kreditprogramm der NRW-Bank für von der Sperrung betroffene Unternehmen bis zur Wiedereröffnung der Autobahn verlängert werden. Bisher endet die Antragsfrist Ende 2023. Darüber hinaus regt die SIHK an, „weitere Förderprojekte zu entwickeln, die in Form von Zuschüssen Unternehmen dabei unterstützen, ihren Betrieb fortzuführen und Arbeitsplätze zu erhalten.“ Zuletzt, so hört man, wurden allerdings Förderanträge immer öfter mit Verweis auf leere Kassen zurückgewiesen.

Wirtschaftsminister Habeck lehnt Bitte um finanziellen Nachteilsausgleich ab

Zudem hat Bundeswirtschaftsminister Habeck die Bitte um einen finanziellen Nachteilsausgleich für die Region abgelehnt. Sie war unter anderem von der heimischen SPD-Bundestagsabgeordneten Nezahat Baradari an ihn herangetragen worden. Baradari ist nun ziemlich sauer auf den Koalitionspartner: „Die Grünen haben wohl noch nicht mitbekommen, welches Desaster wir hier vor Ort erleben“, sagte sie dieser Zeitung.

Lesen Sie hier das komplette Interview mit Johannes Vogel:.


Die FDP wirkt derzeit eher nicht wie ein Koalitionspartner, sondern wie eine Oppositionspartei. Richtig?

Nein. In Wahrheit erleben wir gerade die Notwendigkeit einer veränderten politischen Kultur. Das alte System mit zwei großen Volksparteien und kleineren Parteien, wobei jeweils eine größere Partei mit einer kleineren koaliert, kommt an ein Ende. Und damit kommt auch die Vorstellung von politischen Lagern, die sich näher stehen, an ein Ende. Jetzt bilden zum ersten Mal drei konkurrierende und sehr unterschiedliche Parteien eine Koalition, weil der Wählerwille es ihnen so aufgegeben hat. Das wird in den nächsten Jahren zum Normalfall werden.

Mit welchen Folgen?

In der politischen Kultur müssen sich zwei Dinge verändern. Erstens: Nicht jede öffentliche Debatte ist gleich Streit. Wenn der Weg zum demokratischen Kompromiss offen ausgetragen wird, dürfen wir das nicht gleich als negativ empfinden. Zweitens: Nicht jeder Kompromiss ist Verrat. Die Parteien dürfen sich nicht in Kompromissunfähigkeit manövrieren und einmauern. Der Modus früherer Koalitionen, zunächst hinter den Kulissen um eine Lösung zu ringen und dann an die Öffentlichkeit zu gehen, funktioniert in dieser Welt nicht mehr. Es muss okay sein, dass die Unterschiede zwischen den Parteien auch in der Debatte sichtbar werden, wenn am Ende ein Ergebnis folgt, das unser Land nach vorne bringt. In diesem Prozess befinden wir uns gerade bei sehr vielen Gestaltungsthemen, die in den Jahren der Merkel-Kanzlerschaft liegen geblieben sind.

Welche meinen Sie?

Mein Ehrgeiz ist, dass wir am Ende des Gestaltungsjahres 2023 mindestens folgendes erreicht haben werden: die Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung bei Infrastrukturprojekten, Stichwort Rahmedetalbrücke, endlich ein modernes Einwanderungsgesetz à la Kanada mit Punktesystem für Fachkräfte, mehr Ordnung in der Migration insgesamt, der Einstieg in eine Kapitaldeckung bei der gesetzlichen Rente, ein technologieoffenes Gebäudeenergiegesetz, das die Bürger nicht überfordert und nicht in ihr Eigentum eingreift und ein mit der Schuldenbremse konformer Haushalt. Das wäre eine Menge.

Moment mal. Das Jahr ist schon halb herum.

Trotzdem. Erreichbar ist das, alles ist gesetzlich auf dem Weg oder in Vorbereitung. Ich bin Realist, aber auch Optimist der Tat. Wir haben das Land besser durch die Krise des letzten Winters gebracht, als viele glaubten. Jetzt müssen wir zeigen, dass wir bei den großen Herausforderungen in den Gestaltungsmodus kommen.

Mag sein, aber im Moment wirkt die Koalitionsarbeit eher wie Dauerstreit. Das hilft der AfD.

Die Umfragewerte der AfD fordern uns heraus. Sie waren 2018 schon mal in derselben Größenordnung, und es ist gelungen, sie zu reduzieren. Das muss jetzt wieder gelingen. Ich glaube, dass das Wesen von Populisten ist, dass sie Probleme gar nicht lösen wollen, sondern dass sie sich daran mästen. Deshalb ist es Teil der Lösung, die Herausforderungen wirklich anzugehen und uns dafür auch Zeit zu nehmen. Beispiel Gebäudeenergiegesetz. So wie Robert Habeck das vorgelegt hat, war es keine gute Lösung. Jetzt arbeiten wir gemeinsam an einer besseren Lösung. Wir konnten ja nicht als Freie Demokraten unsere Überzeugungen verraten oder ein schlechtes Gesetz mitmachen, nur um Streit zu vermeiden.

Wie lautet Ihr Vorschlag in diesem konkreten Fall?

Jede Heizung, die künftig neu eingebaut wird, muss das Potenzial haben, klimaneutral betrieben werden zu können. Aber technologieoffen. Jede Bürgerin, jeder Bürger muss je nach Wohnsituation selbstbestimmt den besten Weg wählen können. Und Eingriffe in bestehendes Eigentum darf es gar nicht geben.

Trügt der Eindruck, dass in Deutschland gerade eine Schönwetter-Klimapolitik betrieben wird? Nach dem Motto: Macht mal langsamer, wir haben noch Zeit.

Wir haben nur noch wenig Zeit, weil wir im Jahr 2045 klimaneutral wirtschaften und leben müssen. Dazu haben wir uns verpflichtet – und mir ist das ernst. Deshalb sollten wir uns jetzt auf die großen Fragen der Klimapolitik konzentrieren. Damit meine ich beispielsweise den Handel mit Emissionsrechten. Wir sollten in Deutschland den Zertifikatehandel für alle Lebensbereiche früher nutzen und so den CO2-Ausstoß dicht deckeln. Dort, wo wir dieses Instrument in Europa bereits nutzen, übertreffen wir die Klimaziele sogar. So nutzen wir die Kraft der Marktwirtschaft und fördern den Umstieg auf die jeweils klimaneutralen Techniken.

Lassen Sie uns gedanklich über die A 45 nach Südwestfalen fahren. Bis die neue Rahmedetalbrücke steht, dürften noch ein paar Jahre vergehen. Wie wollen Sie der Region helfen?

Diese Katastrophe ist aufgrund einer jahrelangen Vernachlässigung unserer Infrastruktur entstanden. Das Leiden unserer Region zeigt, wie wichtig zukunftsfähige Infrastruktur ist. Ich habe persönlich das aktuelle Planungsbeschleunigungsgesetz mit betrieben, welches auch dem beschleunigten Verfahren bei der Rahmedetalbrücke noch mehr Rechtssicherheit bei etwaigen Klagen gibt. Die Ausschreibung des Neubaus sieht zudem vor, dass nicht der billigste Anbieter, sondern der schnellste den Zuschlag bekommen soll. Ich bin sehr gespannt, was die deutsche Bauwirtschaft nun an Tempo bieten wird. Trotzdem wird der Neubau ein paar Jahre dauern. Die Region hat ja selbst sehr gute Vorschläge für die Übergangszeit gemacht, um den wirtschaftlichen Nachteilen zumindest an anderer Stelle etwas entgegen zu stellen. Etwa das Tumo-Center für digital-kreative Bildung in Lüdenscheid, für dessen Förderung ich mich persönlich erfolgreich eingesetzt habe. Zudem werde ich mir sehr genau anschauen, wie die neue Deutsche Agentur für Transfer und Innovation helfen kann. Sie hat ja die Aufgabe, neues Wissen aus der Forschung und innovative Ideen schneller in die Anwendung zu bringen – genau, wo unsere Region ohnehin Stärken hat. Mittelfristig, also noch für diese Legislaturperiode, finde ich ein weiteres Projekt sehr spannend, nämlich das einer Freiheitszone Sauerland.

Was bedeutet das?

Der Aufbau von Freiheitszonen steht auf Betreiben der FDP im Koalitionsvertrag. Es geht darum, in bestimmten Regionen Experimentierräume zu schaffen, in denen innovative Technologien, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle erprobt werden können. Das soll durch weniger Regulierung, weniger Bürokratie ermöglicht werden. Wir brauchen mehr Freiraum, mehr Spielraum für unternehmerische Tätigkeit. Der Bundeswirtschaftsminister steht jetzt in der Pflicht, das zügig konkret auszuarbeiten. Darauf warten wir. Für das Sauerland mit der Sondersituation A 45 kann ich mir eine Umsetzung gut vorstellen. Ich werde das weiter vorantreiben. Das wäre jedenfalls ein großer Wurf.

Stichwort Innovation. Ist Künstliche Intelligenz eher Chance oder Bedrohung?

Beides. Aber als Zukunftsoptimist und Technikbegeisterter sage ich: Die Chancen überwiegen. KI bedarf jedoch einer Regulierung; der Rechtsstaat muss einen Rahmen definieren. Sonst drohen Gefahren für die Demokratie, etwa durch Falschinformationen. Gleichzeitig müssen wir massiv in KI investieren, sonst läuft China uns den Rang ab. Wir wachen bei diesem Thema gerade erst auf, aber wir sind noch nicht zu spät dran.