Essen. In Innenstädten und Bahnhöfen betteln vermehrt Menschen um Geld. Warum wir manchmal etwas geben und trotzdem unzufrieden sind.
In den Innenstädten des Ruhrgebiets sind Bettler immer präsenter. Passanten reagieren sehr unterschiedlich - manche mit Mitleid, andere mit Ablehnung. Björn Enno Hermans, Diplom-Psychologe und Direktor der Essener Caritas, erklärt, wieso man manchmal kein Geld gibt, ob man sich deshalb schämen müsste und wieso ein gut gemeinter Brötchenkauf nicht unbedingt gut ankommt.
Herr Hermans, wann sind Sie zuletzt von einem Bettler angesprochen worden?
Erst kürzlich am Essener Hauptbahnhof. Ein Mann, von dem ich denken würde, dass er unter Substanzeinfluss stand, hat auf dem Bahnsteig alle Wartenden aus einer gewissen Distanz heraus um Geld gebeten. Da der Begriff Bettler von einigen Menschen als diskriminierend empfunden wird, würde ich aber eher von einer um Geld bittenden Person sprechen.
Haben Sie etwas gegeben?
In dem Fall nicht, weil ich gerade einen Kollegen begrüßt habe. Das hatte nichts mit dem Mann zu tun. Ich habe oft Kleingeld in der Hosentasche. Manchmal gebe ich etwas, manchmal nicht.
Wann entscheiden wir uns dazu, Bettlern Geld zu geben?
Wir helfen Menschen aus Mitgefühl und Empathie. Wir versetzen uns in ihre Situation oder übertragen sie auf uns oder uns nahe stehende Menschen, die in eine ähnliche Lage geraten könnten. Deshalb spenden wir beispielsweise auch für Flutopfer. Beim Betteln spielt noch etwas eine Rolle, das man Entscheidungsautonomie nennt. Gebe ich Geld, weil ich das selbst entscheide oder weil ich mich gedrängt fühle? Je autonomer wir diese Entscheidung wahrnehmen, umso eher sind wir gewillt, Geld zu geben. Das heißt umgekehrt auch: Manchmal gibt man vielleicht Geld, um aus einer Situation herauszukommen, und ist am Ende unzufrieden mit sich.
Also ist stilles Betteln in der Einkaufszone erfolgversprechender als das aufdringliche, das derzeit in vielen Fußgängerzonen beobachtet wird?
Das wäre zu prüfen. Wir sind aber eher gewillt, einem Menschen, der mit seinem Schild in der Fußgängerzone sitzt, Geld zu geben, weil wir uns dann als Herr unserer Entscheidung fühlen. Ich will aber auch deutlich sagen, dass viele, die betteln, durch multiple Problemlagen in ihrer eigenen Steuerungsfähigkeit und Reflexionsfähigkeit sehr eingeschränkt sind. Von denen überlegt niemand, wie er einen Passanten strategisch besser ansprechen könnte. Es gibt natürlich auch Kriminelle und Leute, die einen übers Ohr hauen wollen, die nehme ich mal davon aus.
Welche Rolle spielt die Annahme, Betteln müsse doch eigentlich niemand mehr in Deutschland?
Auch ich erlebe Leute, die meinen, diese Menschen seien selbst schuld an ihrer Lage und sie könnten doch andere Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Ich finde nicht, dass man das beurteilen kann. Lebensbiografien sind viel zu komplex, als dass sie so einer moralischen Bewertung standhielten. Man erlebt das eher in Milieus, die besonders weit weg von den Menschen auf der Straße sind.
Katholik und Therapeut
Björn Enno Hermans führt seit zehn Jahren den Essener Caritasverband als Präsident. Der 48-jährige promovierte Diplom-Psychologe ist spezialisiert auf die Behandlung von Kindern, Jugendlichen und Familien. Er ist darüber hinaus Notfallpsychologe und arbeitet als Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie in Hamburg.
Der Essener engagiert sich seit Jahren in der Katholischen Kirche und war unter anderem Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das Anliegen von Katholikinnen und Katholiken in der Öffentlichkeit vertritt.
Heißt das umgekehrt, dass sozial Schwache eher etwas von ihrem wenigen Geld geben?
Das kann man sicher pauschal nicht so sagen. Wir wissen, dass Frauen, ältere Menschen und Menschen mit höherer Bildung eher spenden. Allerdings spielt auch die Erfahrung mit Notlagen eine Rolle. Deshalb könnte es sein, dass auch Menschen mit weniger Mitteln etwas geben, weil sie eher eine Ahnung davon haben, wie schnell man in eine solche Lage geraten kann.
Warum reagieren Menschen auf Tiere, die neben Bettlern sitzen?
Zu dem Tier hat man vielleicht eine geringere Distanz als zu dem Menschen, der dort sitzt und mit dessen Lebensbiografie man wenig anfangen kann. Man hat vielleicht ein eigenes Haustier und identifiziert sich über den Hund mit dem Menschen. Hunde lassen uns empathisch sein. Man will auch, dass das Tier gut versorgt ist.
Manche Menschen wollen kein Geld geben. Ist es übergriffig, wenn man Bettlern ein Brötchen kauft?
Dahinter steckt ja oft eine erzieherische Komponente: Du sollst keine Drogen und keinen Alkohol von meinem Geld kaufen, sondern etwas zu essen. Das halte ich für schwierig. Wenn wir sagen, dass der Geldgeber autonom eine Entscheidung treffen will, dann sollte das auch für den Empfänger gelten.
Also besser weitergehen?
Man kann mit den Leuten doch auch reden und fragen, ob sie etwas vom Bäcker oder aus dem Supermarkt brauchen. Wenn man Geld gibt, muss man grundsätzlich damit einverstanden sein, dass man am Ende keine Kontrolle darüber hat, wofür es ausgegeben wird. Menschen mit Suchtproblemen brauchen oft einfach das Geld, um auf der Straße zu überleben. Das kann ich schlecht finden und wollen, dass die Leute einen Entzug machen, aber so ist deren Leben jetzt gerade nun einmal nicht.
Muss man ein schlechtes Gewissen haben, wenn man nichts gibt?
Nein. Das ist eine persönliche Gewissensentscheidung, die nicht per se unempathisch ist. Empathie bedeutet ja, sich in jemanden hineinzuversetzen und seine Perspektive zu erkennen. Wenn ich das tue und dann entscheide, dass ich kein Geld geben möchte, muss man das nicht rechtfertigen.
Sollte ich mich dann entschuldigen?
Ich will da keine Verhaltensempfehlungen geben. Aber persönlich und als Caritas-Direktor ist mir wichtig, dass wir Menschen als Menschen sehen und ihnen mit Respekt und Wertschätzung begegnen. Gerade auch in einer Notlage, auch wenn das Gegenüber fünf Promille im Blut hat und unangenehm riecht. Das heißt nicht, dass er alle Grenzen überschreiten und mich beschimpfen darf. Aber das heißt, dass man Notlagen anerkennt und zumindest nicht urteilend reagiert.