Beipackzettel von Medikamenten sind für Patienten oft unverständlich, sie schrecken ab statt zu helfen. Apotheker fordern deshalb ein Umdenken.

Zwei mal 79 Zentimeter Papier, in Mini-Schrift eng bedruckt: So lang ist die Packungsbeilage eines häufig verordneten Schmerzmittels. Wer soll das alles lesen oder verstehen können? „Beipackzettel von Medikamenten sind viel zu lang und zu kompliziert“, kritisiert der Apotheker Patrick Marx. „Laien können das nicht verstehen.“ Das große Problem: Sehr oft werden von Arzt oder Ärztin verschriebene Arzneien gar nicht eingenommen, sondern landen im Müll oder liegen unbenutzt herum. „Das ist ein großer Prozentsatz“, befürchtet Patrick Marx.

„Lesen Sie die Packungsbeilage sorgfältig durch, bevor sie mit der Einnahme dieses Arzneimittels beginnen, denn sie enthält wichtige Informationen“, steht oben auf dem x-mal gefalteten dünnen Ziehharmonikazettel. Soweit die Theorie. In Wirklichkeit macht das wohl niemand vollständig. Spätestens, wenn nach bereits 88 Zentimetern Text die gruseligen Nebenwirkungen aufgelistet werden, will man das Zeug eigentlich gar nicht einnehmen und legt den Beipackzettel und vielleicht auch das Medikament weit weg.

„Wie soll ich das Mittel schlucken oder anwenden?“ Das wollen Patientinnen und Patienten zuerst wissen. Bei unserem Beispiel-Schmerzmittel, einem der in Deutschland am meisten verordneten Medikamente, erfahren wir das aber erst nach 66 Zentimetern anderem Text, darunter 22 Zentimeter mit Warnhinweisen in der üblichen Kleinstschrift. Ob ich die Arznei in der Schwangerschaft oder Stillzeit nehmen darf, steht noch davor, aber das interessiert naturgemäß wohl die Wenigsten.

QR-Code auf Beipackzettel in den Niederlanden

„Alles viel zu kompliziert“, meint Patrick Marx, der in Mülheim an der Ruhr und Oberhausen mehrere Apotheken führt. Gründer der ersten Apotheke war sein Vater Jacques Marx, und mittlerweile ist auch sein Sohn Timon als Apotheker mit eingestiegen. Das Mitarbeiterteam ist groß, auch weil die Bürokratie immer mehr Zeit frisst – dazu später mehr. „Es gibt europäische Richtlinien und Gesetze, und Deutschland ist in allem überperfekt und sattelt immer noch etwas drauf“, beanstandet Patrick Marx.

„Selbstverständlich muss im Beipackzettel stehen, welche Wechselwirkungen die Arznei mit anderen Medikamenten auslösen kann und wie die Kontraindikationen sind, also, bei welchen Erkrankungen man es nicht nehmen darf oder etwas Besonderes beachten muss.“ Auch mögliche Nebenwirkungen zu nennen, ist gesetzlich vorgeschrieben. „Aber das muss alles wesentlich knapper und verständlicher formuliert werden.“

Patrick Marx’ ideale Packungsbeilage wäre kurz, idealerweise barrierefrei, mit den wichtigsten Infos in gut lesbarer Schrift (gerade für ältere Menschen wichtig, die die meisten Medikamente einnehmen) und für Laien sofort zu begreifen. „Dazu müsste es stets die Möglichkeit geben, im Internet weitere, ausführliche Informationen einzusehen.“ In den Niederlanden sei das bereits Standard: Der Beipackzettel enthält im Nachbarland einen QR-Code, der zu einer virtuellen Packungsbeilage und Erklärvideos führe, erklärt der Apotheker.

Von Ärztin oder Arzt verordnete Medikamente nicht oder in falscher Dosierung zu nehmen, kann zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen. Schließlich werden sie nicht verschrieben, damit Patienten sie vielleicht nehmen, nur ab und zu, zur falschen Tageszeit oder auch gar nicht, oder vielleicht zusammen mit Orangensaft, obwohl sie dann nicht wirken. Aber in der üblichen Form schrecken die zuweilen meterlangen Drohzettel ab. Das Beispiel-Schmerzmittel kann laut beigelegter Information etwa 25 „häufige“ Nebenwirkungen haben, ungefähr 65 „gelegentliche“, ebenso viele „seltene“ und – immerhin – nur zwei „sehr seltene“ Nebenwirkungen, die statistisch gesehen einen von 10.000 „Behandelten“ betreffen.

Nocebo- statt Placebo-Effekt

Warnen vor unverständlichen Beipackzetteln: Die Apotheker Jacques, Patrick und Timon Marx (v.l.).
Warnen vor unverständlichen Beipackzetteln: Die Apotheker Jacques, Patrick und Timon Marx (v.l.). © HO | Gudrun Heyder

„Häufig“ bedeutet aber „bis zu einer von zehn Behandelten“, „gelegentlich“ kann bis zu einen von 100 Patienten betreffen. Ja, und wenn ich nun gerade ich dieser eine von zehn Patienten bin? Will ich zum Beispiel Verwirrtheit, Gedächtnisverlust, Zittern, Schlaflosigkeit, Stürze, Erbrechen, Muskelkrämpfe oder „abnormen Gang“ in Kauf nehmen, oder ertrage ich meine Schmerzen doch lieber weiter und entsorge das Medikament?

„Bekannt und erforscht sind auch Nocebo-Effekte“, weiß Apotheker Patrick Marx. (Nocebo ist lateinisch und bedeutet „ich werde schaden“. Das Gegenteil ist der Placebo-Effekt: Medikamente, „heimlich“ ohne Wirkstoffe, lindern die Beschwerden, weil man an die Wirkung glaubt.) „Liest man von einer Nebenwirkung, meint man diese auch eher bei sich zu bemerken“, erläutert Marx. Wenn man lange genug in sich hineinhorcht, ob etwa der Oberbauch schmerzt, weil das ein Symptom sein könnte, spürt man den Bauch eher unangenehm, als wenn davon nie die Rede gewesen wäre. Bei über 150 aufgezählten Nebenwirkungen in einem Beipackzettel hat man als Patientin oder Patient reichlich Auswahl.

Studie ergibt dramatisches Ergebnis

Eine Onlinestudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und der Universität Hamburg mit fast 400 Laien bestätigt diesen Effekt (www.mpib-berlin.mpg.de): Alternative Beipackzettel verwiesen in der Studie darauf, dass die genannten Symptome auch ohne Zusammenhang mit dem eingenommenen Medikament auftreten können. Lediglich zwei bis drei Prozent der Teilnehmenden mit dem Standardbeipackzettel konnten nach dessen Lektüre Fragen zur ursächlichen Häufigkeit korrekt beantworten. Bei den alternativen Informationen waren es bis zu 82 Prozent!

Wer einen Beipackzettel liest, kann bei der Einnahme der Pillen verunsichert werden: Nutzen oder schaden mir die Medikamente?
Wer einen Beipackzettel liest, kann bei der Einnahme der Pillen verunsichert werden: Nutzen oder schaden mir die Medikamente? © Unbekannt | Unbekannt

„Dass nach wie vor Informationsformate in unserem Gesundheitssystem genutzt werden, die Patienten und praktizierende Ärzte verwirren, ist ein Gesamtproblem, welches die Patienten- und Arzneimittelsicherheit gefährdet“, sagte Seniorautorin Odette Wegwarth, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich „Adaptive Rationalität“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.

Manche Hinweise sind auch schlicht überflüssig. So ist im Beipackzettel einer Heilerde zur Linderung von Magen-Darm- sowie Haut- und Muskel-Beschwerden zu lesen, dass man nach Einnahme des „mineralischen Naturprodukts aus eiszeitlichen Lösablagerungen“ bedenkenlos Maschinen bedienen oder am Straßenverkehr teilnehmen kann. Wer hätte das gedacht?!

Beipackzettel: Wer liest denn bis dahin?

Die Informationen über den korrekten Umgang mit dem harmlosen Erdpulver füllen eine 84 Zentimeter lange und 18 Zentimeter breite Papierbeilage. Die Anwendungserklärung für „Gesichtsmaske“ und „Peeling“ sind darin wortgleich, füllen aber zwei Spalten. Und beim Schmerzmittel wäre wohl für die Laien entbehrlich zu wissen, dass die Hartkapseln so zusammengesetzt sind: „Undurchsichtiges, weiß gefärbtes Oberteil und undurchsichtiges, weiß gefärbtes Unterteil mit dem Aufdruck in schwarzer Drucktinte „RDY“ auf dem Oberteil und „291“ auf dem Unterteil“. RDY? 291?

Die Erklärungen zum Schmerzmedikament beginnen mit der Überschrift „Bei peripheren und zentralen neuropathischen Schmerzen“. Warum steht da nicht „äußerlich“ und „durch eine Nervenerkrankung bedingt“? Später ist die Rede vom „Stevens-Johnson-Syndrom“ und „toxischer epidemaler Nekrolyse“. Alles klar!? Derartige Informationen sind wichtig für Ärzte und Apothekerinnen, aber der Laie versteht rein gar nichts. Patrick Marx fordert für Arzneien jeweils zwei getrennte Packungsbeilagen: eine ausführliche in medizinischer Fachsprache für Experten und eine kurze mit übersetzten Fremdwörtern für Laien. „Ich verstehe nicht, warum das in Deutschland alles nicht möglich ist“, bemängelt der Apotheker.

Fast ganz unten im Endlosbeipackzettel steht, nach über einem Meter Infos, dass der Patient „sofort“ medizinischen Rat einholen muss, wenn er nach der Einnahme Schwellungen im Gesicht bemerkt oder sich die Haut abschält. Das klingt dramatisch, aber wer liest denn bis dahin? Vor allem alte Menschen ohne Angehörige mit der Geduld, sich mit den Arzneien von Mutter oder Vater intensiv zu beschäftigen, Personen mit geistiger Einschränkung oder sehbehinderte Menschen haben da wenige Chancen.

Eine weitere Schwierigkeit vom Weg der Arznei vom ärztlichen Rezept bis zu Magen oder Haut des Patienten besteht darin, dass sich die Menschen verständlicherweise nicht merken können, was Ärztin oder Arzt ihnen in der Praxis gesagt haben: Soll ich Pille 1 morgens nehmen oder abends und von Tablette 2 drei oder vier am Tag? Kann ich die mit Kapsel 3 zusammennehmen oder erst nach zwei Stunden? Am Apothekentresen trauen sie sich dann oft nicht, noch einmal genau zu fragen. Das könnte ja vergesslich wirken oder schwer von Begriff.

„Wir haben eine Beratungspflicht, und es ist unsere Aufgabe, das zu erklären, dafür gibt es in Apotheken ausgebildetes Fachpersonal“, betont Patrick Marx. „Das muss einem überhaupt nicht unangenehm sein.“ Außerdem braucht sich niemand zu schämen, wenn er oder sie für einen „Tabubereich“ Medikamente benötigt und Erläuterungen dazu. Für Medizinerinnen und Apotheker gibt es keine peinlichen Körperteile: Alle gehören zum Menschen, versichert der Apotheker.

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