Essen. Philosophin Marjan Slob beschreibt im Buch „Der leere Himmel. Lob der Einsamkeit“, warum das Gefühl zu Unrecht negativ besetzt ist.
Ist Einsamkeit eines der großen Probleme unserer Zeit? Eine neue Studie der Arizona State University um den Psychologen Frank J. Infurna stellt fest, dass die Einsamkeit in der Gesellschaft unter 53.000 Befragten in zwölf Ländern von Generation zu Generation angestiegen ist. Mit Folgen für die Gesellschaft, die schon in vielen Studien zuvor geschlussfolgert wurden: Depression, Immunschwäche und eine reduzierte Lebenserwartung zählen dazu. Teils wird Einsamkeit sogar als eine gesellschaftliche Epidemie angesehen. Die niederländische Philosophin Marjan Slob hat sich in ihrem neuen Buch „Der leere Himmel. Lob der Einsamkeit“ mit dem Phänomen der Einsamkeit und vielen wissenschaftlichen Untersuchungen dazu kritisch auseinandergesetzt. Sie relativiert die Schwarzmalerei – und liefert gleich ein paar hilfreiche Ansätze, wie man Einsamkeit zum persönlichen Vorteil nutzen kann.
Frau Slob, man geht davon aus, dass gut acht Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft beklagen, dass sie einsam sind. Viele Studien beschwören sogar steigende Zahlen und eine Epidemie der Einsamkeit. Sie hingegen stellen fest, dass es sich eher um ein konstantes Phänomen handelt. Wissen Sie mehr als andere Wissenschaftler?
Ich bin natürlich Philosophin und keine empirische Wissenschaftlerin. Aber ich habe mich mit den Daten zum Thema Einsamkeit auseinandergesetzt. Und die Schwierigkeit mit all diesen Daten ist, dass sie durch Interviews und das Ausfüllen von Fragebögen gesammelt werden. Das ist keine sehr zuverlässige Art der Datenerhebung. Wenn ich etwa den Grad meiner Einsamkeit auf einer Skala von eins bis zehn bewerten muss und eine sieben wähle, während jemand anderes eine acht angibt, was heißt das dann? Ist derjenige automatisch einsamer als ich? Man müsste herausfinden, ob meine Sieben nicht viel tragischer ist als seine Acht. Ich habe mich ein bisschen mit der Literatur über Einsamkeit auseinandergesetzt und festgestellt, dass sie über einen langen Zeitraum verblüffend konstant geblieben ist. Man kann auch nicht behaupten, dass ältere Menschen sich einsamer fühlen als jüngere, obwohl das ein kulturelles und gesellschaftliches Klischee ist.
Man kann leicht mutmaßen, warum Alterseinsamkeit als weitverbreitet angesehen wird.
Wenn ältere Menschen ihren Lebenspartner verlieren und in Trauer sind, dann befinden sie sich natürlich in einem schrecklichen Zustand und empfinden Einsamkeit. Aber es ist nicht so, dass über die gesamte Gruppe der älteren Menschen eine höhere Einsamkeit herrscht. Die Daten belegen höhere Werte eher für eine andere Altersgruppe.
In welchem Alter ist die Einsamkeit denn am höchsten?
Zumindest in Europa liegt der höchste Wert bei denen, die zwischen 46 und 48 sind, also eigentlich im mittleren Alter. Statistisch erreicht die Einsamkeit in dieser Altersgruppe ihren Höhepunkt. Und ich habe auch eine Hypothese, woran das liegt.
Wie lautet sie?
Die Menschen denken in diesem Alter oft, dass sie in ihrem Leben feststecken. Sie haben so viele Rollen, die sie ausfüllen müssen, so viele Aufgaben, denen sie nachkommen müssen. Dann stellen sie irgendwann fest, dass ihre Lebenszeit langsam abläuft und dass ihnen nicht mehr alle Möglichkeiten im Leben offenstehen, so wie es vielleicht in jungen Jahren war. Sie verlieren die Verbundenheit zu den Hoffnungen, die sie in ihr Leben gesetzt haben. Darunter leiden sie.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass die englische Sprache zwei Ausdrücke für unterschiedliche Aspekte von Einsamkeit hat. Können Sie die erläutern?
Im Englischen kennt man „solitude“ und „loneliness“. „Solitude“ ist für mich eine reine körperliche Zustandsbeschreibung, die bedeutet, dass einfach niemand da ist. Für mich kann diese Form von Einsamkeit sogar positiv besetzt sein: Ich erlebe sie gerne, weil ich dadurch meine Umgebung wertschätzen kann, sie ermöglicht es mir, ein gutes Leben zu führen, weil ich in meinem Rückzugsraum bleiben kann. „Loneliness“ hingegen ist ein negatives Gefühl, eine Art des Leidens. Menschen, die dies empfinden, verdienen unser Mitgefühl.
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Was erzeugt dieses negative Gefühl?
Es ist ein Mangel an sozialer Verbundenheit, den viele Menschen empfinden und der wahrscheinlich die am häufigsten auftretende Art von Einsamkeit darstellt. Es fehlen einfach Freunde und Begleitung. Eine weitere Form ist die emotionale Einsamkeit, bei der es um einen Mangel an Intimität geht. Dabei kann es um sexuelle Intimität gehen, aber auch darum, dass man keine wirklich guten Freunde oder Seelenverwandten um sich herum hat. Und dann gibt es noch die existenzielle Einsamkeit, die bedeutet, dass man sich generell verloren und nicht verbunden fühlt. Das ist ein Gefühl, das sich nicht einfach durch ein vielfältiges und abwechslungsreiches Sozialleben aus der Welt schaffen lässt. Da ich Philosophin bin, interessiert mich diese Form von existenzieller Einsamkeit am meisten.
Was macht sie so interessant?
Es fühlt sich manchmal wie ein Klischee an, wenn man sagt, dass die moderne Gesellschaft uns einsam macht. Aber für mich gehört dazu, dass man das Fehlen einer Verbundenheit fühlt – und man muss durch Selbstanalyse erstmal herausfinden, dass da ein Mangel besteht. Dazu gehört auch, dass man sich über seinen eigenen Platz in der Welt und im Leben klar wird. Und dass man feststellt, dass man sich auch vorstellen könnte, in einer anderen Situation zu sein. Es hängt also damit zusammen, dass man sich für sein Leben etwas anderes wünschen könnte.
Gibt es eine Möglichkeit, existenzielle Einsamkeit zu vertreiben oder zumindest damit zurechtzukommen?
Ich glaube, das Zurechtkommen damit ist durchaus möglich. Man darf sich vor allem nicht selbst die Schuld daran geben, dass man sich einsam fühlt. Denn das ist ein vollkommen normaler Aspekt des menschlichen Daseins. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich niemals mit jemandem wirklich befreundet sein könnte, der niemals solch eine Einsamkeit empfunden hat. Es gibt einen schwedischen Dichter, der sinngemäß gesagt hat: Du bist für mich sichtbar geworden, weil Du vom Schmerz getrunken hast. Es ist wichtig, dass man keine Scham empfindet wegen seiner Einsamkeit. Und dass man lernt, sie vielleicht sogar wertzuschätzen. Man wird dadurch interessanter und entwickelt mehr Charakter. Wenn man den Mut hat, sich diesem Gefühl der Einsamkeit zu stellen, dann hat man auch den Mut, nach außen zu gehen und aktiv Verbindungen herzustellen.
Helfen die Sozialen Medien dabei, die Einsamkeit zu überwinden?
Das ist eine zweischneidige Angelegenheit. Oft wird betont, wie sehr sie uns schaden, weil wir einander nicht mehr sehen. Ein anderer Aspekt ist, dass sie oft oberflächlich sind. Aber manchmal ist das auch schon ausreichend, um unseren Zustand zu verbessern. Ich habe eine ältere Mutter, die ich nicht ständig sehen kann. Aber ich sende ihr jeden Tag zumindest eine WhatsApp-Nachricht, um sie wissen zu lassen, dass ich an sie denke, und ihr ein paar ganz alltägliche Dinge mitzuteilen. Das ist vielleicht trivial, aber es sorgt für Verbundenheit.
Kann der Staat dabei helfen, Einsamkeit in der Gesellschaft zu bekämpfen? In Großbritannien gibt es ja sogar das Ministerium für Sport, Zivilgesellschaft und Einsamkeit.
Das ist ja eine Form von Sozialarbeit, sie kann durch den Staat oder die Kommunen gefördert werden. Es kann vorkommen, dass Menschen sich zu lange einsam fühlen und gar nicht mehr vor die Türe gehen. Dann kann es wichtig sein, dass jemand sich professionell darum kümmert. Es können da etwa soziale Angebote gemacht werden, Spielrunden, Lesekreise oder dass man Musik mit anderen Menschen macht. Auch das kann sogar online funktionieren, wenn man so jemand am anderen Ende der Welt findet, der dieselben Interessen teilt. Es gibt kein Patentrezept. Aber es ist wichtig, dass überhaupt Angebote gemacht werden.
Marjan Slob ist freie Essayistin, Philosophin, Kolumnistin und Beraterin der niederländischen Regierung. Sie schrieb „Schlechte Fantasien“, „Ein anderes Ich“ und „Hirnbiest. Das Gehirn und der menschliche Geist“, womit sie 2017 den Socrates Wisselbeker gewann, eine Auszeichnung für das beste Philosophiebuch des Jahres.
Marjan Slob: „Der leere Himmel. Lob der Einsamkeit“, Hirzel Verlag, 269 Seiten, 26 €.