Ruhrgebiet. Jecke Vereine kämpfen ums Überleben. Wer geht noch zur Narrensitzung? Und wo bleibt der Nachwuchs? Wie sie sich retten wollen.
Sie haben keinen Büttenredner, aber drei DJs und eine Lichtshow; keine Ordensverleihung, aber eine mallorquinische Fachkraft für Partyschlager; keine langen Tische, aber eine große Tanzfläche: Beim „1. Voerder Karnevalsverein“ hat ein Maskenball die Prunksitzung abgelöst. Der vorsitzende Karnevalist Martin Scholz nennt den Abend daher eine „Party mit traditionellen Elementen“, die in Gestalt von Prinzenpaar, Tambourkorps und Tanzgarde später am Abend auftreten und durchaus gefeiert werden. Nach Programmende aber tanzen die Leute bis in den Morgen. Die Musik? Eher sowas wie „The feeling goes on and on and on . . .“
Der Verkehrspilot Scholz (58) und sein Team haben einen lahmenden Verein in den letzten Jahren gründlich umgekrempelt. Haben Jugendliche gefragt, was sie wollen vom Karnevalsverein; lassen Mädchen, die nicht mehr Gardetanz zeigen wollen, Discodance oder HipHop auf die karnevalistische Bühne bringen; haben zuletzt gleich mehrere Karnevalspartys für junge Leute angeboten und in 14 Minuten ausverkauft. Im kleinen Voerde! Der Verein hat jetzt fast 200 Mitglieder. 2020 waren sie 70 oder 75. Gegangen ist: einer.
„Was gefällt den Leuten momentan?“
Geht so also der Karneval der 2020er-Jahre? Party statt Prunksitzung? Der Trend ist nicht zu übersehen: Dem Straßen- und Kneipenkarneval geht es anscheinend gut, aber die altbackenen Sitzungen mit Reden, Ordensverleihung und Präsidium zehren aus. In Bottrop feiern sie stattdessen jetzt „Karneball“ („Schatzi, schenk mir ein Foto“), in Bochum gibt es zu Karneval eine „Abendkleid trifft Kostüm“-Gala, in Oberhausen einen „Karnevalsrausch“ („99 Luftballons“). „Es gibt auch ein Publikum für klassische Prunksitzungen“, sagt Christian Bräunlich, ein Vereinsvorsitzender: „Zugleich muss der Karneval mit der Zeit gehen. Was gefällt den Leuten momentan?“
So sieht das auch der Recklinghäuser Christian Walter aus dem Vorstand des „Bundes Ruhr-Karneval“, wo er einen guten Überblick hat. „Neuerdings wird auf Partymodus umgestellt, das zieht jüngere Menschen an und ist in Teilen günstiger“, sagt er: „Der Sitzungskarneval ist in Teilen nicht mehr so interessant und lässt die Besucherzahl schwinden.“ Auflösung und Neugründung von Vereinen hielten sich in etwa die Waage. Langfristig aber sinkt die Zahl.
Vereine denken daran, Sitzungen zusammenzulegen
Traditionellere Karnevalisten empfinden die Entwicklung als tiefe Krise. „Das Vereinsleben stirbt aus, nicht das Karnevalfeiern“, sagt eine Vorsitzende vom Niederrhein, und ein Kollege sieht es so: „Wenn wir aufgeben, dann werden unsere Nachkommen nicht mehr wissen, was Karneval ist und bedeutet. Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen.“ Hans-Georg Schweinsberg vom Festkomitee in Gelsenkirchen sagt: „Die goldenen Jahre sind vorbei.“ Er beklagt vor allem die Kosten für Gagen und für Sicherheit, die davonlaufen. Dazu muss man aber auch sagen: Der Karnevalsschlager „Wer soll das bezahlen“ ist von 1949.
So kommt es dann, dass etwa in Oberhausen Gedankenspiele angestoßen sind, die Sitzungen von Vereinen zusammenzulegen: ergibt mehr Besucher bei geringeren Kosten. Dass der alternative Dortmunder „Geierabend“ mitten in der Session einen dringenden Aufruf starten muss, schnell 1000 Karten zu kaufen - sonst gibt‘s keinen Geierabend 2025 mehr. Dass es beim deutschen Dachverband der Karnevalisten Überlegungen gibt, traditionelle Sitzungen zu zertifizieren, um sie aufzuwerten.
Antrag auf ein „Brauchtums-Pflichtabgabe-Gesetz“
Tatsächlich ist sogar das Düsseldorfer Prinzenpaar im Januar mit Musik, Luftschlangen und Berliner Ballen durch Schulen gezogen, um Jugendliche zu erreichen. Selbst dort, in Düsseldorf, einer der Hauptstädte des Karnevals, sagt der Stadtdirektor: „Um diese Traditionen langfristig erhalten zu können, ist es ganz wichtig, den Nachwuchs rechtzeitig dafür zu begeistern.“ Dass das Festkomitee Essener Karneval einen Antrag gestellt hat auf ein Brauchtums-Pflichtabgabe-Gesetz von einem Euro pro Einwohner, das war hingegen noch ein Scherz.
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Doch nochmal zurück nach Voerde. Der Neuerer Martin Scholz hatte in der Vergangenheit regelmäßig Vorwürfe und Beschimpfungen traditioneller Karnevalisten auf seinem Smartphone empfangen, wenn er mal wieder alte Regeln gebrochen hatte. „Nach dem Maskenball kriege ich wieder einen Shitstorm“, hatte er vor wenigen Tagen gemutmaßt.
Doch der ist ausgeblieben. „Ein paar sehr traditionelle Vereine haben diesmal gesagt, das war gut und sehr cool, was ihr da gemacht habt“, sagt er. Vielleicht bewegt sich ja was. Nur: Wohin? „Vielleicht ist in fünf Jahren die Veranstaltung wieder völlig anders“, sagt er: „Wir machen ein Feedback-Treffen im Frühjahr und holen die neuen Ideen im Herbst wieder raus.“