Düsseldorf. Vor Gericht erzählen Opfer von den schweren Folgen des Anschlags von Ratingen. Darunter eine Polizistin (25), die monatelang um ihr Leben rang.
Es ist der Tag der Opfer im Prozess um den Brandanschlag von Ratingen. Der Tag, an dem acht meist junge Menschen, Feuerwehrleute, ein Sanitäter und seine Kollegin, die schwerst verletzte Polizistin dem Düsseldorfer Landgericht erzählen sollen, was geschah am 11. Mai. An dem sie aber auch erzählen dürfen, was das Feuer mit ihnen gemacht hat. Acht Zeugen und Zeuginnen mit sichtbaren Narben auf der Haut. Die Wunden auf ihren Seelen sieht man nicht, aber sie sind noch lange nicht verheilt.
Es gibt wohl nur einen im Saal, der in diesem Moment ungerührt bleibt. Der Angeklagte mit seinem wirren Haar blickt unbeteiligt in die Runde, bei allen anderen ist das Entsetzen, die Betroffenheit, auch etwas Angst vor diesem Augenblick fast mit Händen zu greifen. Da kommt sie, die 25-jährige Polizistin, um deren Leben sie monatelang gebangt haben. Von der ein Sanitäter sagte: „Sie stirbt“, von der die Sanitäterin dachte: „Das kann kein Mensch überleben“, für die der Notarzt keine Hoffnung hatte. Die junge Frau geht am Stock, mühsam, ihr Kopf ist bandagiert, vom langen blonden Zopf ist nichts mehr zu sehen. Ihre Hände stecken in Kompressionshandschuhen, ihr Gesicht: rot von den Brandwunden. Aber sie lebt!
Zehnter Stock, Ratingen-West: Der Mieter lebte schon lange mit einer Leiche
Und auch sie erzählt mit fester Stimme, was vor ihr schon sieben andere berichtet haben, immer gleich, und an einem vorherigen Prozesstag ihr Kollege: Wie sie zur Hilfe gerufen wurden an jenem Morgen, weil in Ratingen-West ein Briefkasten überquoll, man die Nachbarn ganz oben links lange nicht gesehen hatte. Wie niemand öffnete, sie also die Türfenster einschlugen, die Querstreben zersägten, dahinter eine Barrikade vorfanden aus Wasserkästen. Wie sie den Verwesungsgeruch bemerkten, so schlimm, dass sich selbst den Erfahrensten der Magen umdrehte. Und wie sie deshalb alle dasselbe dachten: In dieser Wohnung kann keine lebende Person mehr sein. „Wer lebt denn“, fragt ein junger Feuerwehrmann, „mit einer Leiche?“
Dieser 57-Jährige offenbar, dessen Mutter (91) schon lange tot gewesen sein muss, gegen den es einen Haftbefehl gab wegen Körperverletzung, der Vorstrafen hatte und von Nachbarn „verrückt“ genannt wurde. „Ein bisschen Banane“, sagt die Polizistin in einem Video, das ihre Bodycam aufgenommen hat – es ist der einzige Moment, an dem sie leise lacht. Im Film lachen die Kollegen oft, sie versuchen, die Spannung zu überspielen, weil sie wissen: Gleich werden sie Tote finden.
Todesangst, nach dem der Mieter Benzin und einen Brandsatz warf
Aber im Dunkel hinter der Tür findet die Polizeibeamten den Angeklagten, sie sieht ihn nur schemenhaft, warnt die Kollegen, alle berichten von einem Schrei. Dann fühlt sie eine Flüssigkeit auf ihrem Kopf, eigentlich schmeckt sie sie nur: Benzin. Als sie geduckt aus der Tür hastet, sehen die Männer draußen es tropfen von ihrem Kopf. Dann plötzlich Feuer, alle Zeugen berichten, wie unerträglich heiß es auf einmal ist im Laubengang: Nach dem Benzin hat der Mieter einen Brandsatz geworfen, was sie fühlen, erwähnt niemand sofort, aber sie werden alle danach gefragt: Todesangst.
Ein Feuerwehrmann rennt den Kollegen einfach um, über 100 Kilo schwer. „Völlig handlungsunfähig“ sei er gewesen, bestand nur noch aus Angst. Es läuft die Polizistin, „von den Schuhen bis zu den Haaren in Vollbrand“, sagt ein Feuerwehrmann, alle Stockwerke hinunter. Es spurtet der Notarzt, fällt, rafft sich wieder auf, tritt im Treppenhaus brennende Kleidungsstücke aus. Unten tun sie, was sie gelernt haben: Legen einander nasse Tücher auf den Kopf, rufen Hilfe, wenn verbrannte Finger das noch zulassen, alarmieren Feuerwehr und Polizei: „Schickt alles, was ihr habt!“ Einer rettet, bis er merkt: Seine Schutzkleidung ist „bis auf Pulli und Unterhose“ verbrannt, er ist halb nackt.
Brennende Polizistin mit der Jacke gelöscht
Im Blumenbeet schlägt die Sanitäterin, erst 21, das Feuer über der Polizistin mit ihrer Jacke aus. Der Notarzt (36) löscht ihren Kopf, ihren Hals, die Schutzweste mit Halbliterflaschen Wasser, die Nachbarn ihm vom Balkon reichen. Ein Feuerwehrmann (27) rennt um eine Schere, die Schutzweste aufzuschneiden: „Das blaue Hemd hat noch gebrannt.“ Der Notfallsanitäter (32) macht eine innere Prioritätenliste: 1. Polizistin helfen (das tun schon andere). 2. Verstärkung holen (läuft). 3. Die aufgeregte Kollegin beruhigen („leider nicht geschafft, ich konnte die Ruhe nicht ausstrahlen“). Und „Aufgabe 4, nicht zu sterben“. Der junge Mann untersucht sich selbst, Puls zu schnell, Sauerstoff nötig, „wach und ansprechbar“. Einem nervösen Kollegen sagt er, was zu tun ist.
Der selbst schwer verletzte Doktor öffnet das Fach für schwere Medikamente, dosiert so hoch er kann. Im Kopf sortiert er seine Kollegen nach Farben: Rot für die lebensgefährlich verletzten, zweimal Gelb für „nur“ schwer verletzte. Der Polizistin gibt er die Farbe Blau, für „ohne Überlebenschance“. Als er später in genau die Klinik geflogen wird, in der seine Frau arbeitet, hat er nur einen Gedanken: „Wenn ich jetzt sterbe, ist sie wenigstens da.“
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Von 30, 40, mehr als 60 Prozent verbrannter Haut berichten Rechtsmediziner, von schwer verletzten Atemwegen, Infektionen, Narben, die schmerzen und wieder aufgehen. Im Sommer war es schlimm, sagt ein erst angehender Feuerwehrmann (27), alles sei angeschwollen. „Bald ist Winter“, dachte er, „aber jetzt ist es noch viel schlimmer.“ Die Polizistin zählt elf Operationen auf und viele, die noch kommen müssen. Manche lagen Tage, Wochen, manchmal Monate im Koma, müssen das Leben wieder mühsam lernen. Die Zeugen tragen hohe Kragen, allesamt, von der Kompressionskleidung sind nur die Handschuhe zu sehen. Aber die Narben im Gesicht, auf dem Kopf, an Ohren und Augen können sie nicht verbergen. Einer versucht es mit einer Schutzmaske.
Das sind die körperlichen Schäden. Noch schlimmer sind die seelischen. Die Angst, das Trauma, die Schlaflosigkeit. Der Sanitäter erzählt von Alpträumen, die ihn aus dem Koma bis heute verfolgen. Jede Nacht erlebt er wieder: Er ist unfähig, sich zu bewegen, er ist in Lebensgefahr – und weiß nie, was davon wahr ist. „In vielen Träumen bin ich tatsächlich verstorben.“ Andere schlafen gar nicht erst ein. Wegen der Schmerzen, wegen der Bilder, aber auch, weil sie gar nichts fühlen an ihrer Kopfhaut, wie ein 52-jähriger Feuerwehrmann.
Panikattacken bei Hubschraubern, Hochhäusern oder Notausgängen
Die Panikattacken kommen in den verschiedensten Situationen. Bei fast allen haben Ärzte Posttraumatische Belastungsstörungen diagnostiziert, „natürlich“, findet einer. Bei der Sanitäterin ist es warme Luft, die sie aus der Fassung bringt: beim Föhnen, beim Öffnen des Backofens. Bei ihrem Kollegen sind es Menschenmengen, es reichen aber auch Notausgangsschilder – oder Ruhe. Ruhe heißt, dass jeden Moment etwas passieren kann. „Immer, wenn alles gut ist, erwarte ich, dass etwas explodiert.“ Der Feuerwehr-Azubi fürchtet Hubschrauber und zählt bei Hochhäusern zuerst die Etagen. Ein älterer, Kerl wie ein Baum, war seit Mai nicht mehr auf der Wache. Er meidet den Ort, an dem er so lange Jahre seine „zweite Familie“ hatte, hat nicht einmal Kontakt. Zu viele Erinnerungen, er hat Angst vor den Bildern, selbst vor den Uniformen: In seinem Kopf brennen sie. Der Notarzt erschrak neulich vor Wasserkästen. Auch Ehegatten sind in psychologischer Behandlung, ein Kind hat Verlustängste, seit der Papa an jenem 11. Mai nicht nach Hause kam.
Die brennende Hose klebte dem Feuerwehrmann an den Beinen
Hinzu kommen die Nöte, die quälen, weil sie ihren Kollegen nicht so helfen konnten, wie sie wollten. „Die Polizistin brannte, aber ich kam nicht dran“, sagt ein Feuerwehrmann. Er habe keine großen Schritte machen können, weil seine brennende Hose an den Beinen klebte. Einer sagt, er fühle sich verantwortlich. „Das Wichtigste für mich war, dass alle rausgekommen sind.“ Der Notarzt hadert: „Was hätte ich noch tun können, was habe ich falsch gemacht?“ Er hat es nicht mehr geschafft, der Polizistin einen Beatmungsschlauch zu legen.
Wie es weitergeht, wissen die wenigsten. Ob sie je wieder arbeiten können? Ärzte und Therapeuten raten ab. „Es ist eine große Frage“, sagt der 27-Jährige, dabei habe ich so viel für meinen Traumberuf getan.“ Einige kämpfen für eine Rückkehr in den Beruf, andere wagen es nicht einmal, daran zu denken. Der Notarzt, eigentlich Chirurg, bangte Monate um die Feinmotorik seiner Hände. Auch die Polizistin fragt der Vorsitzende Richter nach ihrer Zukunft, er zögert etwas, nach ihrer Perspektive? „Völlig unklar“, sagt die 25-Jährige, mit den Schultern zucken kann sie nicht. Der Notarzt, unter Tränen, hat ausgesagt, er wäre zu ihrer Beerdigung gegangen. „Zum Glück war das nicht nötig.“