Ruhrgebiet. Mehr Arbeitslose lassen Termine beim Jobcenter platzen. Die Sanktionen sind schwächer. Ruhen sich mehr Menschen auf dem Bürgergeld aus?
Ist das Bürgergeld eine soziale Hängematte? Führen die Höhe der Zahlungen und die schwächeren Sanktionen dazu, dass Empfänger häufiger Arbeit ablehnen? Dass sie Termine beim Jobcenter einfach ignorieren? Essens Sozialdezernent Peter Renzel und auch der Leiter des dortigen Jobcenters, Dietmar Gutschmidt, warnen: Es gebe eine größer werdende Gruppe, die das Jobcenter gar nicht mehr erreicht. Die Zahlen in Essen sprechen für sich. Der Blick in andere Städte zeichnet ein differenziertes Bild.
Die Zuverlässigkeit war schon immer ein Problem. Bis zur Hälfte der Termine im Jobcenter Essen sind schon in Zeiten von „Hartz IV“ geplatzt, weil die Kunden einfach nicht gekommen sind. Mit dem Umstieg aufs Bürgergeld zum Anfang des Jahres haben weitere rund zehn Prozent aller Kunden entschieden, die Angebote des Jobcenters zu ignorieren. Etwa 10 bis 15 Prozent sollen komplett den „Kontakt abgebrochen“ haben, heißt es. Der Anteil derer, die mit dem Bürgergeld zurechtkommen, sei gestiegen, sagt CDU-Politiker Renzel. „Für manchen ist das Bürgergeld zum bedingungslosen Einkommen geworden.“
Jobcenter schafft weniger Vermittlungen
Das schlägt sich offenbar in den Vermittlungen wieder: Zehn Prozent weniger Kunden als im Vorjahr hat das Jobcenter Essen in den Arbeitsmarkt vermitteln können. Am Arbeitsmarkt liege das schlechtere Ergebnis nicht, erklärte Jobcenter-Chef Gutschmidt.
Dass mehr Jobsuchende ihre Termine ignorieren, bestätigen auch andere Jobcenter – auch wenn sie keine Zahlen erhoben haben. Die Vermittlungsquote ist ebenfalls im Grunde flächendeckend zurückgegangen. Zu den Gründen aber gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Darum müssen wir uns auf Spurensuche begeben.
Während in Oberhausen und Bochum im laufenden Jahr etwa 40 Prozent der Kundinnen und Kunden ihre Termine haben platzen lassen, waren es in Gelsenkirchen nur rund ein Drittel. Das ist deutlich weniger – fast die Hälfte – der bis zu 60 Prozent, die Essen an Ausfällen verzeichnet. Aber auch in Gelsenkirchen beschwert sich die Geschäftsführerin des Jobcenters, Anke Schürmann-Rupp: „Bei der Termintreue ist definitiv Luft nach oben.“
In Herne, sagt Jobcenter-Chef Thomas Saponjac, sei es nicht dazu gekommen, dass Kunden vermehrt Termine platzen lassen. Allerdings steuert er seit einem halben Jahr aktiv gegen. Gerade bei jungen Kundinnen und Kunden, die – so hat die Abfrage ergeben – in allen Städten schon in Hartz-IV-Zeiten unzuverlässiger sind als die älteren. Zwei Mitarbeiter besuchen nun die Unter-25-Jährigen zu Hause, mit Ankündigung. Nicht Kontrolle sei das Ziel. „Es geht darum, vielleicht einmal um den Block zu spazieren und herauszufinden, warum die jungen Menschen nicht erscheinen.“ Saponjac nennt es Coaching.
Jobcenter müssen hinterher sein
Auch in Oberhausen bemüht sich das Jobcenter um Kontakt: „Wenn Kunden nicht zu den geladenen Terminen erscheinen, rufen wir sie an“, erklärt eine Sprecherin. Auch Videoschalten bietet das Jobcenter an, Termine kann man per App vereinbaren, Unterlagen hochladen oder Anträge einreichen. Mitarbeitende stellen sich ins Centro, um zu informieren, besuchen Familienzentren und Quartierbüros. Das Jobcenter wirbt auf Instagram. Denn: „Nur wenn wir mit den Menschen in Kontakt sind, können wir auf ihre individuellen Bedürfnisse eingehen und eine Integration in den Arbeitsmarkt erreichen.“ In Bochum zum Beispiel hat man ganz ähnliche Maßnahmen ergriffen.
Salopp gesagt: Die Jobcenter müssen den Leuten stärker hinterherlaufen als früher.
Essens Sozialdezernent Renzel macht dafür auch die schwächeren Sanktionsmöglichkeiten verantwortlich. Im Hartz-IV-System konnten bei wiederholten Versäumnissen die Leistungen komplett gestrichen werden. Im neuen System sind nur Leistungsminderungen bis 30 Prozent möglich – und nur schrittweise. Das heißt, es dauert länger, bis die Jobcenter die Daumenschrauben anziehen können, und Kunden können Sanktionen mit Verschleppungstaktiken begegnen, was das Geschäft mühsamer macht. Vor dem Übergang zum Bürgergeld, in den letzten Monaten des Jahres ‘22 waren die Sanktionen komplett ausgesetzt. So kommt es, dass die Quote fast überall nur langsam wieder ansteigt. Das System pendelt sich also noch ein.
Die Sanktionen werden unterschiedlich gehandhabt
Herne scheint nicht nur zu fördern, sondern auch zu fordern: Die Leistungsminderungen betragen hier bereits wieder drei Prozent. Das ist deutlich mehr als in Essen, wo aktuell 1,4 Prozent erreicht werden. Vor Corona lag auch hier die Sanktionsquote bei 3 Prozent, leicht über dem damaligen Landesschnitt. Der beträgt aktuell nur 0,7 Prozent. Und in diesem Bereich sind zum Beispiel Oberhausen, Bochum und Duisburg verortet. Hier sind die Vermittlungen noch stärker zurückgegangen als in Essen.
Die Höhe der Bürgergeld-Regelsätze soll zum nächsten Jahr noch einmal kräftig steigen. Eine alleinstehende Person wird dann 563 Euro im Monat bekommen (plus Miete etc.). Im Hartz-IV-System waren es zuletzt 449 Euro. Allerdings ist die Höhe der Existenzsicherung nicht frei festzulegen. Der Mechanismus, der auf höchstgerichtliche Urteile zurückgeht, orientiert sich an den Verbraucherpreisen – und die sind kräftig gestiegen. Auch darum kritisieren seriöse Politiker nur selten die Höhe des Bürgergeldes, zur Diskussion steht die sonstige Ausgestaltung.
Die Kernfrage ist allerdings: Führt das Bürgergeld in seiner jetzigen Form dazu, dass die Zahl der Empfänger steigt?
Lohnabstand ist gestiegen
Die Gelsenkirchener Jobcenter-Chefin Schürmann-Rupp sieht eine „Medaille mit zwei Seiten“. Ja, die Unzuverlässigkeit nimmt zu. Aber: „Die Kundinnen und Kunden, die unsere Angebote wahrnehmen, können wir jetzt besser unterstützen.“ Das gelte sowohl für die Tüchtigen, die arbeiten wollen. Aber auch für die schwierigere Klientel sinken Hürden: „Wir hatten vorher Eingliederungsvereinbarungen, bei denen die Kundinnen und Kunden erst einmal im Duden nachschauen mussten, um alles zu verstehen. Jetzt sind sie in einfacher Sprache, die jeder versteht.“ Auch auf eine Rechtsfolgebelehrung könne man verzichten.
Auch ihr Herner Kollege Saponjac unterstreicht das Positive: Die Gespräche würden nun formal eher auf Augenhöhe geführt. Das komme gut an. Die höheren Zuverdienstgrenzen (30 statt 20 Prozent) würden dazu führen, dass Menschen mehr Anreize hätten, aufzustocken und so den Absprung aus der Arbeitslosigkeit zu schaffen. Sprich: Wer arbeitet, kann im neuen System etwas mehr behalten. Der „Lohnabstand“ ist höher.
Die Zahl der Arbeitslosen liegt in NRW um 0,3 Prozentpunkte höher als im Vorjahr, Stand November. Das Ruhrgebiet steht mit einem Anstieg der Arbeitslosenquote um 0,1 Punkte allerdings besser da als alle anderen Landesteile (Rheinland und Bergisches Land: 0,2 Punkte, Ostwestfalen-Lippe und Südwestfalen 0,4, Münsterland 0,5 Punkte). Die Bundesagentur für Arbeit hat auf Anfrage keine Erkenntnisse, ob dies mit dem Bürgergeld zu tun hat. Wohl aber sieht sie starke Indizien, dass die wirtschaftliche Unsicherheit gerade im produzierenden Bereich den Ausschlag gibt. Frauen sind besser in Arbeit gekommen als Männer, sie arbeiten häufiger im Dienstleistungssektor. Und dieser ist längst auch im Ruhrgebiet bestimmend – was die relativ gute Entwicklung erklärt.
Menschen ohne Qualifikation haben es vor diesem Hintergrund besonders schwer, Arbeit zu finden. Und sie stellen die Mehrheit (63,4) der Kunden in den Jobcentern. Die wachsende Unzuverlässigkeit erschwert es natürlich, die Menschen zu einer Weiterbildung zu bewegen. Dem gegenüber steht allerdings ein neues dreistufiges Bonus-System, das Anreize schaffen soll. In Herne ist es so gelungen, die Zahl der Langzeitbezieher deutlich (um 400 Bedarfsgemeinschaften) zu senken gegenüber dem Vorjahr.