Am Niederrhein. Am Niederrhein überwintern fast eine Viertelmillion Gänse. Der Vogelzug ist ein Naturschauspiel, das man auch in Corona-Zeiten verfolgen kann.
Wo sind sie, die Gänse? Zugegeben, der Blick vom Aussichtsturm ist schon grandios genug. So weit das Auge reicht grenzenloses Flachland mit sattgrünen Wiesen und umgepflügten Äckern, hier und da durchbrochen von blinkenden Gewässern, geduckten Kirchtürmen und eingesprenkelten Gehölzen. Der Horizont niedrig, der Himmel monumental. Typisch Niederrhein eben.
Das Gebiet hier ist unter dem Namen Bislicher Insel bekannt. Genau genommen ist es höchstens eine Halbinsel, die an der einen Seite vom Rhein und an der anderen von einem Altrhein-Arm abgeschirmt wird. Bei Hochwasser wird die Gegend überflutet. Die seltene Auenlandschaft ist ein Vogelparadies: Störche, Kiebitze, Kormorane, Eisvögel, Löffler und schneeweiße Reiher bevölkern es. Vor allem aber: Gänse. Zu Tausenden überwintern sie in dem vom Wasser umschlossenen Refugium bei Xanten, bevor sie im Frühjahr zu ihren Brutgebieten in Nordskandinavien und Sibirien aufbrechen.
Hunderttausende Gänse kommen jedes Jahr zum Niederrhein
Am gesamten unteren Niederrhein überwintern alljährlich rund 200 000 Blässgänse, bis zu 20 000 Saatgänse und etwa 10 000 Weißwangengänse. „Es gibt jedes Jahr Schwankungen“, erläutert Mona Kuhnigk, Referentin in der NABU-Naturschutzstation Niederrhein in Kleve. Im Winter 2017/18 waren es zum Beispiel mal weniger Blässgänse, da kamen nur etwa 150 000. „Damals war wegen eines regenreichen Sommers das Baltikum überschwemmt, und da haben die Blässgänse dort ein reiches Nahrungsangebot vorgefunden.“
Als Faustregel gilt: Je kälter ein Winter ist, desto weiter fliegen die Gänse nach Südwesten. „Aber jetzt haben wir ein mildes Jahr, und es sind trotzdem viele hier“, stellt Mona Kuhnigk fest. „Es gibt also auch noch andere Gründe, die das beeinflussen.“
Ilka Weidig leitet das Naturforum Bislicher Insel, ein Besucherzentrum von RVR Ruhr Grün. Die Biologin weiß alles über die Gänse. Sie kennt zum Beispiel ihren Tagesablauf: Morgens lassen sie sich mit lauten Geschnatter auf den Wiesen nieder, fressen dann bis zur Mittagszeit, um anschließend eine kleine Pause auf dem Wasser einzulegen, bevor sie den ganzen Nachmittag wieder Gras fressen. Die Nacht verbringen sie wieder auf dem Wasser. Damit der Fuchs sie nicht holt.
Wenig Schnee: Deswegen mögen die Gänse den Niederrhein
Was mögen die Gänse am Niederrhein? „Es ist die Kombination aus Wasserflächen, Wiesen und dem milden Klima“, erklärt Weidig. „Es schneit hier nur ganz selten, und das ist ein großer Vorteil, denn eine Schneedecke hindert sie am Fressen. Es ist sehr anstrengend für sie, den Schnee zur Seite zu schieben.“
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Doch es ist wie verhext, an diesem Mittag sind die Gänse zunächst nirgendwo zu sehen. Ilka Weidig sucht den Horizont mit dem Fernglas ab. Man kann hier sehr, sehr weit übers Land schauen. Der Niederrheiner sagt, bei ihm werfe jeder Maulwurfshügel Schatten.
„Ah, ich glaub, ich weiß jetzt, warum sie nicht da sind.“ Ilka Weidig reicht das Fernglas weiter. Auf einem einsamen, ganz und gar kahlen Baum in der Ebene zeichnet sich in den oberen Ästen trotz der enormen Entfernung ein großer schwarzer Punkt ab. Nach einigem Suchen erkennt man auch noch einen zweiten Punkt weiter unten im Geäst. „Das ist das Seeadler-Pärchen.“ Zweieinhalb Meter Spannweite haben die. Und würden auch eine Gans nicht verschmähen.
Gänse weichen den Jungtieren nicht von der Seite
Weiter geht die Wanderung über die Insel. Gänse sind Helikopter-Eltern. Ein Jahr lang weichen sie den Jungtieren nicht von der Seite. „Die Gänse haben als kleine Küken schon eine grobe Richtung gespeichert“, erläutert Mona Kuhnigk. „In dem Erbgut steckt drin: Ihr müst in Richtung Südwesten fliegen. Das wissen die. Aber die wissen natürlich nicht: Wo ist die Route, wo sind die Zwischen-Rastplätze? Das sind sogenannte Traditionen. Und die entstehen erst dadurch, dass die alten Gänse die jungen Gänse mitnehmen.“ Dabei orientieren sie sich wohl an Wegmarken wie Flüssen und Küstenlinien. Das große Wunder des Vogelzugs!
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Inzwischen hat Ilka Weidig auch ein paar Gänse gefunden. Auf einem kleinen See halten sie ihren Mittags-Schnack, wie sie es nennt. Es gibt wirklich einiges zu erzählen, gemessen an der Lautstärke. „Wenn sie im März plötzlich weg sind, dann fällt uns hier immer die Stille auf.“ Das Klappern der Störche, die als Sommergäste ihren Platz einnehmen, ist dagegen ganz dezent.
Führungen zu den Gänsen gibt es dieses Jahr coronabedingt nicht. Aber wer es zu Hause nicht mehr aushält, der kann auf eigene Faust losfahren. „Aus dem Auto heraus die Gänse beobachten, ist eine gute Möglichkeit, weil man da die Gänse auch nicht stört“, erläutert Mona Kuhnigk. „Wenn man zu Fuß unterwegs ist, dann am besten auf Straßen, wo immer Fußgänger herlaufen, zum Beispiel auf dem Deich. Da haben die Gänse dann keine Angst mehr vor, weil sie da dran gewöhnt sind.“
Landwirte bekommen Ausgleichszahlungen für die Gänsefraßschäden
Das Problem ist sonst, dass die Gänse aufgescheucht werden und hochfliegen - dadurch verlieren sie jedesmal sehr viel Energie, die sie durch Fressen wieder reinholen müssen. Und dann beklagen sich wiederum die Bauern, weil die Gänse alles kahl fressen. In NRW bekommen die Landwirte Ausgleichszahlungen für die Gänsefraßschäden. „Da muss man natürlich immer mit haushalten“, sagt Mona Kuhnigk.
Auf dem Rückweg ein kurzer Halt an einer besonders schönen Stelle auf der Deichkrone. Und da geschieht es auf einmal. Noch bevor man sie sehen kann, hört man sie schon: Von irgendwo ganz oben kommt ein fremdartiges Rufen. Dann tauchen sie auf: In einer vollendeten Dreiecksform ziehen die Gänse am Himmel entlang. Es sind bestimmt an die hundert oder mehr, und doch sieht man jedes Tier gestochen scharf. Ganz vorn an der Spitze führt eine einzelne Gans die Formation an. Verblüffend koordiniert und zielsicher steuern sie auf ihr Ziel zu, so als handelten sie alle nach einem der Natur zugrunde liegenden Plan. Ihr Ziel: ein kleines Fleckchen Erde am unteren Niederrhein. (dpa)