Am Niederrhein. Vor 130 Jahren wurde Heinrich Lersch geboren. Er war als Arbeiterdichter bekannt, er ist als Nazi-Sympathisant umstritten. Eine Erinnerung.

Über den Arbeiterdichter Heinrich Lersch ist längst Gras gewachsen. Die Stadt Mönchengladbach hält das Grab für ihren berühmten Sohn auf dem Hauptfriedhof in Ehren – schon deshalb gehört dieses viel zu kurze 46-jährige Leben hinterfragt.

Übrig blieb ein Nachlass im städtischen Archiv: 211 Einheiten in 27 Kartons, die Schreibmaschine: Marke Olympia, und zwei Totenmasken in unterschiedlicher Ausführung. Verblasste Fotos, verblichene Manuskripte, verwitterte Tagebücher und vergilbte Zeitungsartikel geben ein zeitloses Beispiel für Höhen und Tiefen, Stärken und Schwächen, Irrungen und Wirrungen, Brüche und Widersprüche eines Menschen.

Heinrich-Kleist-Preis für den Kriegslyriker

Mit der national besoffenen Vers­zei­le „Deutsch­land muss le­ben, und wenn wir ster­ben müs­sen!“ schrieb sich Hein­rich Lersch am 2. August 1914 in das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis seines Vaterlandes ein­ und begründete seinen zweifelhaften Ruf als Kriegslyriker. 1916 erhielt er den Heinrich-Kleist-Preis.

Als Arbeiterdichter schmiedete er Reime und hämmerte Wörter.
Als Arbeiterdichter schmiedete er Reime und hämmerte Wörter. © Stadtarchiv Mönchengladbach

Wie andere Künstler dieser Epoche meldete er sich freiwillig für den Ersten Weltkrieg. „Es gibt auf Er­den ja kein grö­ße­res Glück, als nicht Sol­dat, als nicht im Krieg zu sein!“, schwadronierte er. Und klang, nachdem er an der Westfront in der französischen Champagne eine Tage verschüttet war, urplötzlich anders: enttäuscht und ernüchtert, bisweilen verbittert, wohl möglich geläutert. „Es hat ein jeder Toter des Bruders Angesicht.“

Ein Loblied auf seine Heimat: Mönchengladbach am Niederrhein

Die Schriftstellerei war Heinrich Lersch nicht in die Wiege gelegt. Am 12. September 1889 wurde er geboren. München-Gladbach hinterließ er die Zeilen: „Wo der Niederrhein sich breitet, still dem Norden zugewandt, sich dem Meer der Himmel weitet, da liegt unser Heimatland.“

Der Vater war ein Kesselschmied, der Sohn erst auch. Als Geselle verdingte sich bei Kohle und Stahl im Ruhrpott, schuftete in Fabriken in Holland und Belgien sowie in Werften an der Nordsee, arbeitete sich bis Basel, Wien und Rom vor. Die Maloche lieferte ihm den Stoff für sein späteres Handwerk.

Ein Autodidakt und „Mensch im Eisen“

Der autodidaktische Autor schmiedete Reime, hämmerte Verse, meißelte Worte. In Gedichten, Erzählungen und Romanen schilderte er das ästhetische Moment harter körperlicher Arbeit, nicht selten heroisierend bis romantisierend. Typische Titel seiner Arbeiten: „Fabriksonntag“ oder „Im Puls­schlag der Ma­schi­nen“.

Als Hauptwerk gilt „Mensch im Eisen“, ein Gedichtband von 1925: „Mein Tagwerk ist: im engen Kesselrohr bei kleinem Glühlicht kniend krumm zu sitzen – an Nieten hämmernd in der Hitze schwitzen.“

Selbstbildnis vom „Prolet von Gottes Gnaden“

In einem poetischen Selbstbildnis bezeichnete er sich als „Prolet von Gottes Gnaden“. Eine tiefe Religiosität durchzieht sein wortgewaltiges Schaffen, je nach Lesart wird es zwischen Katholizismus und Kommunismus eingeordnet, leider aber zurecht auch im Nationalsozialismus.

Wie der Vater, so der Sohn: gelernter Kesselschmied, Malocher.
Wie der Vater, so der Sohn: gelernter Kesselschmied, Malocher. © Stadtarchiv Mönchengladbach

„Es kommt dein Tag, Prolet“, hoffte er – zum Klassenkampf jedoch rief er nie auf. Enttäuscht von seinem bitterarmen Alltag in der Weimarer Republik lief er den Nazis hinterher. Schlimmer noch: Im Oktober 1933 unterzeichnete er das Treuegelöbnis gegenüber Adolf Hitler, im August 1935 trat er in die NSDAP ein. Und formulierte alte Texte um – aus „Soldaten der neuen Armee“ wurden „Soldaten der braunen Armee“.

Joseph Goebbels trug ihn mit zu Grabe

Die Nazis nahmen ihn in die Preußische Akademie der Künste auf, 1935 wurde ihm der Rheinische Literaturpreis verliehen. Als Heinrich Lersch im Sommer 1936 infolge einer Lungenentzündung in einem Krankenhaus in Remagen starb, trug ihn NS-Propagandaminister Joseph Goebbels persönlich mit zu Grabe.

Heinrich Lersch also ein Nazi? Im österreichischen Graz wurde der Heinrich-Lersch-Platz 2011 umbenannt, in Münster der Heinrich-Lersch-Weg 2012 belassen. In Duisburg gibt es eine Heinrich-Lersch-Straße, auch in Mönchengladbach – hier ist seit 1958 ausgerechnet nach ihm eine Hauptschule benannt.

Max von der Grün und Martin Walser als Fürsprecher

Andererseits: Heinrich Lersch unterstützte schreibende Kollegen, die von den Nazis verdächtigt oder verfolgt wurden. Entsprechende Belege liegen im Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in Dortmund. Max von der Grün war und Martin Walser ist ein Fürsprecher des kleinwüchsigen und zeitlebens kränkelnden Mannes, der als aufsässig, eigenwillig und unangepasst charakterisiert wurde.

Und in Bad Bodendorf an der Ahr, wo Heinrich Lersch von 1932 an bis zu seinem jähen Tod lebte, erinnert man sich an ihn als naturverbundener Familienmensch, verheiratet mit Erika und Vater von drei Kindern. Von dieser Facette seines Wesens erzählt er 1926 in seinem Kinderroman „Manni“ fest, liebevoll im rheinischen Dialekt. Welch ein Gegensatz!

Enkel Martin Lersch gab ein Buch über seinen Großvater heraus, eine Lebenskritik, keine Abrechnung.
Enkel Martin Lersch gab ein Buch über seinen Großvater heraus, eine Lebenskritik, keine Abrechnung. © Ingo Plaschke

>> INFO: Enkel Martin Lersch über seinen Opa Hein

Lange Zeit litt Martin Lersch unter seinem Opa Hein, wie der berühmte Dichter in der Familie genannt wurde. Der Enkel lernte den früh verstorbenen Großvater nie kennen. Aber in der Schule wurde er mit dessen Werk malträtiert. Umso erstaunlicher, dass der Maler und Zeichner, der heute in Goch lebt, im Jahr 2014 ein Buch herausgab, in dem das Leben von Heinrich Lersch sehr differenziert und kritisch ausgeleuchtet wird: „Schreiben, Freunde, Familie. Heinrich Lersch 1889-1936, Pagina-Verlag, Goch, 19,95 Euro (ISBN 978-3-944146-46-1).