Selfkant. . Der Bundespräsident lief vor 35 Jahren zum westlichsten Punkt Deutschlands – mitten durch den Selfkant. Ein Nachgang, mit Umweg, ohne Tirolerhut.
Vielleicht liegt es ja an der Sonne, die seit rund drei Stunden über meinem Kopf brennt. Ich irre auf holperigen Wegen durch einen Wald, auf der Suche nach dem Ziel meiner Wanderung: dem westlichsten Punkt von Deutschland – dem Westzipfel im Selfkant.
Bloß: Das kleine Schild an der dicken Eiche lässt mich stutzen: „Pieterpad.“ Mist! Ich bin zu weit gelaufen, längst auf niederländischem Boden unterwegs.
Mmmh – zurück über die grüne Grenze. Zwischen zwei Maisfeldern stiefele ich schnurstracks auf ein gelbes Ortsschild zu: Isenbruch. Ein paar Meter weiter steht ein weiteres Schild, darauf ein weißer Pfeil und: „Westlichster Punkt Deutschlands“. Geht doch.
Mit dem Zipfelpass in die Zipfelgemeinde
Karl Carstens ist das natürlich nicht passiert. Als der Bundespräsident hier wanderte, hatte er 5000 (!) Menschen hinter sich, die ihm den Weg hätten zeigen können. Noch nie sei er einer „größeren Freundlichkeit“ begegnet als hier, schwärmte das Staatsoberhaupt nach seinem Ausflug ins Heinsberger Land, am 8. Januar 1983.
Wer will, kann die Strecke nachlaufen – oder nachradeln. Auf der Internetseite der Grenzgemeinden Gangelt, Selfkant und Waldfeucht sind die Karte und Wegbeschreibung kostenlos herunterzuladen; und zwar hier: www.der-selfkant.de, Link: Natur & Bewegen.
Und wer sich nicht ganz so blöd anstellt wie der Autor dieser Zeilen, kommt bestimmt ohne Umweg ans Ziel.
Ach ja, eine kleine Randbemerkung: Und wer hier übernachtet, kann sich in der Gemeindeverwaltung von Selfkant einen Stempel für den Zipfelpass holen.
Zurück zum Weg. An meiner Vorbereitung hat’s nicht gelegen. Über ein Antiquariat hatte ich das Buch „Wanderungen in Deutschland“ bestellt. Das 366-seitige Werk, 1985 im Verlag Busse + Seewald erschienen, ist offiziell längst vergriffen, wird aber online verhökert – 2,60 Euro kostete mein Exemplar, plus Porto.
Inhalt: Erinnerungen an sämtliche 45 Tagesetappen, die der Bundespräsident mit seiner Frau Veronica während seiner Amtszeit von 1979 bis 1984 absolvierte. Von Hohwacht an der Ostsee bis Garmisch-Patenkirchen. Deutschland zu Fuß, fast 1600 Kilometer.
Erbsensuppe und Pippipause
Seine einzige Wanderung am Niederrhein führte ihn im Winter 1983 ganz bewusst zum Westzipfel der Republik. Die Vorbereitungen für die 24 Kilometer-Tour dauerten rund drei Monate und erforderten eine Absprache zwischen den Gemeinden und dem Kreis Heinsberg. Der Schriftverkehr ist in Waldfeucht archiviert – und liest sich genau 35 Jahre später teils amüsant, teils skurril. Kein Ort in der Gegend sollte benachteiligt werden – und „dem Kreis ist auch anzugeben, in welchem Haus der Bundespräsident mit Gattin die Toilette benutzen kann“.
Start war (und ist) am Marktplatz in Waldfeucht. Der erste Mann der Republik kam direkt in Wanderschuhen und mit Tirolerhut vorgefahren. Ein Kinderchor sang „Wohlauf in Gottes schöne Welt“, noch schnell ein Eintrag ins extra dafür angeschaffte Goldene Gemeindebuch – danach los.
„Morjen, morjen“, riefen Anwohner dem prominenten Gast aus Fenstern und Vorgärten ihrer Häuser zu, war in den Lokalzeitungen zu lesen. Und von der Mittagsrast in der Hauptschule in Höngen, bei Erbensuppe aus der Feldküche.
Meine Wegzehrung besteht aus zwei Proteinriegeln, auf denen ich etwas entnervt herumkaue – nachdem ich viel zu lange durch viel zu hohe Brennnesseln entlang des Saeffelerbaches herumgeeiert bin. Meine Beine jucken wie verrückt. Sieht so aus, als ob schon länger niemand mehr auf den Spuren des Bundespräsidenten gegangen ist. Die Alternative wäre ein Radweg ein paar Meter weiter gewesen, aber Asphalt gibt es auf dieser Strecke schon genug.
Ein volksnaher Wanderpräsident
In Schalbruch geht es an einem Denkmal für die gefallene Soldaten der beiden Weltkriege vorbei, genau die richtige Stelle, um kurz über Karl Carstens (1914-1992) nachzudenken: Als der CDU-Politiker überraschend Bundespräsident wurde, warf man ihm seine NSDAP-Mitgliedschaft vor. Ein aktiver oder überzeugter Nazi jedoch war er wohl nicht, ein Widerstandskämpfer aber auch nicht.
Eher ein Mitläufer, aus dem später ein Wanderpräsident wurde: betont volksnah, mit Sinn für Land und Leute.
Menschenfischend steuerte er die Waldfeuchter Mühle an. Für ihn „eine Besonderheit: die einzige noch heute arbeitende Windmühle in der Bundesrepublik Deutschland“, merkte er in seinem Buch an. Dort überreichte er dem Müller Alfred Tholen ein Bild mit persönlicher Widmung und gratulierte ihm zur goldenen Hochzeit, die dieser drei Tage zuvor gefeiert hatte.
Irgendwann dann war der Bundespräsident, so wie ich auch, am Ziel. Damals stand er am Grenzstein 309b, heute ist die Szenerie hier künstlich aufgeladen: Etwas mehr als 120 Schritte führen über einen Holzweg (sic!) zu einer Metallwand, auf der steht in Großbuchstaben: „WEST“.
Hier also endet Deutschland, aber nicht die Welt. Dahinter liegt die Niederlande – genau genommen: der Garten eines Holländers.