Am Niederrhein. . Das Stammhaus der Familie von Heinrich Böll stand einst in Xanten – nicht die einzige Verbindung des Literaturnobelpreisträgers zum Niederrhein.

Als Katharina Blum mitten im Deutschen Herbst um ihre verlorene Ehre kämpfte, ließ der Buchautor Heinrich Böll sie, immer wenn’s regnete, mit dem Auto drauflos fahren: nach Süden in Richtung Koblenz, nach Westen in Richtung Aachen – „oder runter zum Niederrhein.“

Es ist nicht die einzige Stelle im Gesamtwerk des Literaturnobelpreisträgers von 1972, an der er ausgerechnet den Niederrhein in seinen Manuskripten verewigte: mit seiner Schreibmaschine der Marke Remington Traveller Deluxe. Heinrich Böll, der einst in Köln, drei Minuten vom Rhein entfernt, geboren und 1983 dort zum Ehrenbürger ernannt wurde, hatte mit dieser Region doch ein wenig mehr zu tun, als die meisten seiner unzähligen Biografen bisher voneinander abgeschrieben haben.

Schriftsteller mit Haltung, in diesem Fall typisch für Heinrich Böll: die Kippe in der Hand.
Schriftsteller mit Haltung, in diesem Fall typisch für Heinrich Böll: die Kippe in der Hand. © Heinz Wieseler

Bald eintönig beginnen die Beschreibungen seines Lebensweges in der Südstadt, in dem früheren Wohn- und Werkstatthaus auf der Teutoburger Straße (mal 26, mal 32). Doch Heinrich Böll war natürlich sehr viel mehr als „Der gute Mensch von Köln“, wie Schriftstellerfreund Lew Kopolew einst schwärmte und Gegner aus Politik und Presse bitterböse hetzten.

Am 21. Dezember 1917, also morgen auf den Tag genau vor einhundert Jahren, wurde Heinrich Theodor Böll geboren. Das Datum ist Anlass genug, um sich an dieser Stelle seiner niederrheinischen Verbindungen und Wurzeln zu vergewissern. Zumal er, 32 Jahre nach seinem Tod in seinem Haus in Langenbroich in der Voreifel, inzwischen Geschichte geworden ist.

Über Holland in die neue Heimat

Heinrich Böll, der nie explizit eine Autobiografie veröffentlichte, skizzierte in seiner Erzählung „Über mich selbst“ aus dem Jahr 1959: „Meine väterlichen Vorfahren kamen vor Jahrhunderten von den Britischen Inseln, Katholiken, die der Staatsreligion Heinrichs VIII. die Emigration vorzogen. Sie waren Schiffszimmerleute, zogen von Holland herauf rheinaufwärts, lebten immer lieber in Städten als auf dem Land, wurden, so weit von der See entfernt, Tischler. Die Vorfahren mütterlicherseits waren Bauern und Bierbrauer...“

In der gerade neu veröffentlichen Studie „Heinrich Böll und die Deutschen“, im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, beklagt Autor Ralf Schnell, dass die frühe Familiengeschichte der Bölls in keiner gesicherten Quelle nachzuweisen sei.

Aber: „Fest steht lediglich, dass ein seit 1720 bestehendes Haus in Xanten (Niederrhein) als Stammhaus der Familie Böll gelten kann.“

Erstaunlich ist, dass diese Vergangenheit in der Römer-, Dom- und Siegfriedstadt allenfalls eine Fußnote in der Historie wert ist, wenn überhaupt. Auf Nachfrage im Stadtarchiv und bei der Stadtinfo ist nicht mehr herauszubekommen, das Haus wohl längst weg.

Das Stammhaus der Familie Böll am Niederrhein steht wohl nicht mehr. In Weeze war früher ein Kriegsgefangenenlager, in dem auch Heinrich Böll für höchstens zwei Tage war. Heute ist hier eine Gedenkstätte.
Das Stammhaus der Familie Böll am Niederrhein steht wohl nicht mehr. In Weeze war früher ein Kriegsgefangenenlager, in dem auch Heinrich Böll für höchstens zwei Tage war. Heute ist hier eine Gedenkstätte. © pla

Zum Glück lebt Werner Böcking noch. Der Autor kennt die Anekdote von den Ahnen, verortet das Böll’sche Stammhaus in die Nähe des ehemaligen Klosters in Mörmter. Und war persönlich bei der wohl einzigen Lesung anwesend, die Heinrich Böll in Xanten hielt: 1957 aus seinem Manuskript zum Irischen Tagebuch, das er damals noch unter dem Titel „Der tote Indianer in der Duke Street“ angekündigt habe; so hieß schließlich eines der 18 Kapitel des Werkes.

Tatsächlich lebten bereits im 18. Jahrhundert Menschen mit dem Nachnamen Böll in Xanten; übrigens bis heute. Im Internet sind mehrere Stammbäume zu finden, in denen ein gewisser Johannes Böll als frühester Eintrag auftaucht: angeblich am 3. März 1740 dort geboren.

Und tatsächlich lebte im 19. Jahrhundert bereits ein Heinrich Böll in Xanten. Er wurde am 3. Juli 1829 hier geboren und starb am 24. Oktober 1911 in Köln: der Großvater des später weltweit berühmten Namensträgers.

Ausfindig gemacht wurde Opa Böll von Barbara Naus, die unter anderem das Jahrbuch für die Gemeinde Weeze mit herausgibt. Für einen Artikel in der Ausgabe von 2007 stöberte sie in den uralten Akten der Kirche und des Standesamtes in Xanten – mit Erfolg.

Opa Böll hatte eine Nichte, die 1881 ebenfalls in Xanten geboren wurde und 1958 in Weeze starb: Helene Bergolte, die also eine Großcousine von Heinrich Böll, dem Schriftsteller, war; im Volksmund auch Nenntante genannt.

Über Weeze endlich nach Hause

Letzteres ich wichtig zu wissen, um die erschreckend-schöne Erzählung „Als der Krieg zu Ende war“ von Heinrich Böll aus dem Jahr 1961 besser zu verstehen. Darin beschreibt er die letzten elenden Tage als Soldat der deutschen Wehrmacht in diesem verdammten und verhassten Zweiten Weltkrieg. Seine Rückkehr aus der Gefangenschaft nach Deutschland erlebte er zufällig – in Weeze.

Neben der Bahnstrecke und heutigen B9, auf Höhe des Schlosses Wissen, hatte die britische Armee ein Lager eingerichtet, das der Historiker und Kreisarchivar Karl-Heinz Tekath (†) einmal als „Das Tor zur Freiheit“ bezeichnete. Auf der Gedenktafel am Rand eines Ackers ist von 230 000 Gefangenen zu lesen, die von hier aus entlassen wurden – darunter auch Heinrich Böll (der aber aus erst noch nach Bonn gebracht wurde).

Wie einst seine Vorfahren kam Heinrich Böll wohl über Holland an den Niederrhein. Auf der Zugfahrt fielen dem körperlich mehrfach verwundeten und seelisch fast kaputten Wehrmachtssoldaten auch „die Kusinen in Xanten, die Tanten in Kevelaer“ ein.

Diese Tafel steht neben dem Gedenkstein im Wissenerfeld in Weeze. Die Stelle ist frei zugänglich, man kann mit dem Auto bis kurz davor fahren (von der B9 aus).
Diese Tafel steht neben dem Gedenkstein im Wissenerfeld in Weeze. Die Stelle ist frei zugänglich, man kann mit dem Auto bis kurz davor fahren (von der B9 aus).

Tja, nicht alles, was er hier notierte, ist historisch richtig, manches seiner künstlerischen Freiheit geschuldet – wie etwa die konsequent falsche Schreibweise von „Nijmwegen“. Oder eben, dass bisher erst eine echte Verwandte am Niederrhein ausgemacht wurde: Tante Helene,die Großcousine Bergolte.

Rätsel gibt auch die Datierung seines höchstens zwei Tage dauernden Aufenthaltes in Weeze auf. In vielen Böll-Biografien ist vom 11. September 1945 zu lesen, an dem er hier ankam. Doch in einem Brief an Ernst-Adolf Kunz berichtete er selbst vom 13. September. Auch die jüngst mit etwas zu viel Marktgeschrei herausgebrachten Kriegstagebücher von Heinrich Böll bringen keine neuen Aufschlüsse.

So bleibt die Erkenntnis: Am besten die alten Böll-Bücher lesen – nicht nur zur Weihnachtszeit.

>> INFO: Zur Erstellung dieses Artikels wurde unter anderem diese Literatur genutzt:

Primärliteratur – Heinrich Böll, „Als der Krieg zu Ende war“, in: Bernd Balzer (Hg.): Heinrich Böll Werke. Romane und Erzählungen 3. 1961-1971. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1977. Heinrich Böll, „Die Hoffnung ist wie ein wildes Tier. Briefwechsel mit Ernst-Adolf Kunz 1945-1953“, hg. von Herbert Hoven, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1977. Diese beiden Ausgaben sind nur noch übers Antiquariat erhältlich. Beide Bücher sind aber in Neuausgaben im Buchhandel zu kaufen.

Sekundärliteratur Karl-Heinz Tekath, „Das Tor zur Freiheit“, in: Weezer Geschichte, Jahrbuch 2005. Barbara Naus, „Aufgespürt: Heinrich Bölls Tante Helene“, in: Weezer Geschichte, Jahrbuch 2007. Beide Bücher sind über den Heimat- und Verkehrsverein erhältlich (je 10 Euro). Ralf Schnell, Heinrich Böll und die Deutschen, 240 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2017, 19 Euro, im Buchhandel zu kaufen.