Augen zu und durch? Lesen mit der Bildschirmbrille ist nichts für Anfänger. Es sei denn, man torkelt gerne durch Texte und mag die Welt wellig.
Im Sommer stand vor mir am Geldautomaten eine Frau mit drei Brillen. Eine trug sie auf der Nase, zwei klemmten in ihrer Frisur. „Eine für weit, eine für nah, eine für Sonne!“, beantwortete sie meinen fragenden Blick. Ich fand die Dame ein bisschen skurril. Nun sitze ich verzagt am Bildschirm, mit vier Brillen.
Die Häufung der Sehhilfen ist nicht skurril, sondern ein Altersleiden. Und ich bin nicht sicher, ob ich diese Geschichte zu Ende bringe. Der Monitor ist besoffen, das Bild schwankt. Das liegt an meiner Gleitsicht-Computerbrille. Dieses Wunderwerk lässt mich sacht vom Nah-Sehen zum Mittel-Nah-Sehen gleiten. Leider gleitet die Umgebung mit. Ich rutsche in meinem Weltbild aus, torkele von Text zu Text, das Sprachzentrum lallt Kolumnen.
Haltsuchend greife ich zur guten alten Bildschirmbrille. Die ist wohltuend wie ausgelatschte Pantoffeln. Beim Sehen auch ähnlich hilfreich. Die Buchstaben sind klein, grau und ducken sich weg. Also Brille Nummer drei, die alte Lesebrille. Einige Buchstaben lassen sich auf einen Kompromiss ein: Hellgrau, mittelgroß, an den Rändern unscharf.
Den Rest des Arbeitstages verbringe ich mit Brillen-Hopping. Nach jedem Absatz tausche ich das Gestell, praktiziere statt Gleitsicht ein Turbo-Flexi-Glotzen. Das schadet der Sehkraft, besonders wenn man sich in der Hektik die Brillenbügel ins Auge sticht. Ob ich die Gleitsichtbrille unbewusst ablehne? Oder bewusst, weil meine Tochter gesagt hat, ich sehe damit „irgendwie aus wie eine Schildkröte“. Ein prähistorischer, schrumpeliger Mini-Drachen? Zu den Sehproblemen gesellt sich eine Sinnkrise. Sie kennen diese Schulbuchgeschichte vom weinenden Kind im Kaufhaus, das seine Mutter verloren hat. Es wird gefragt, wie Mama aussieht. Wie die schönste Frau der Welt, sagt es. Während der Ladendetektiv die schönste Frau sucht, schlurft ein unscheinbares Mütterlein herbei und das Kind schreit: Da ist sie!
Ich weiß, warum ich auf meine Blagen im Kaufhaus immer höllisch aufgepasst habe. Und mustere mich im Spiegel. Plötzlich funktioniert die Brille, legt Details frei wie ein hyperaktiver Archäologe: Falten! Gleitsicht ist ein Biest, schonungsloser als Dieter Bohlen. Ein Krötenpanzer zum Verkriechen wäre hilfreich. Da kommt mein Sohn rein und sagt ohne Ironie: Coole Brille, Mama! Die Falten verziehen sich. Sind Schildkröten nicht edle, weise Tiere, die Zeitlosigkeit verströmen? Ich fühle mich stark genug, endlich Brille Nummer vier aufzusetzen, meine erste Fernsichtbrille.
Entwarnung! Nichts torkelt, die Brille ist reine Kosmetik, die Welt sieht aus wie immer. Mir hatte bloß niemand gesagt, dass Realität jetzt auch in HD ausgestrahlt wird.
Augentropfen, Apotheke, ca. 5 €