Ameland. Auf der Nordseeinsel wird immer regelmäßig noch das Pferderettungsboot ausgebracht. Damals mühsam, heute eine wunderbare Tradition.

Susanne Völler

Traditionen halten die Amelander hoch. Altes wird bewahrt. Drei der vier schnuckeligen Inseldörfer stehen unter Denkmalschutz, so auch Hollum ganz im Westen. Der Ortskern des 1300-Seelen-Dorfs ist geprägt von schön herausgeputzten Kapitäns- und Lotsenhäusern aus dem 17. und 18. Jahrhundert, als Handelsschifffahrt und Walfang boomten.

Dörfliche Ruhe prägt normalerweise die ziegelsteingepflasterten Gassen. Doch heute ist alles anders, schon seit dem Morgen liegt Spannung in der Luft, herrscht im Dorf konzentrierte Betriebsamkeit. Vor dem Seefahrtzentrum Abraham Fock versammeln sich die Schaulustigen, warten auf den Start des Rettungsboots zum Strand. Warm eingepackte Helfer laufen zielstrebig hin und her, holen Riemen, Stricke, Kandaren. Zehn nervös tänzelnde Pferde werden eingeschirrt, Zugstränge, Bauchgurte, Brustblätter kontrolliert. Jeder Handgriff sitzt. Dann wird die Abraham Fock angespannt, das alte Rettungsboot der Insel aus dem Jahr 1937, sonst Schaustück des Museums und im Ruhestand.

Mit zehn Pferdestärken zum Meer

Szenenwechsel. Auch am Strand südwestlich von Hollum machen sich langsam Aufregung und Anspannung breit. Tausende Menschen säumen die Dünen oder stehen auf dem Strand, wo sie ein Spalier bilden. „Gleich wird es dramatisch“, lacht Wilhelm, der mit uns wartet. Der Rentner kennt die Insel wie seine Westentasche und verrät uns, dass er die „Pferderettungsaktion in Hollum sicher schon zehn Mal gesehen“ hat. Das sei ein Spektakel! „Man wird an die Urgewalt des Meeres erinnert und schaut gleichzeitig dem perfekten Miteinander von Mensch und Tier zu“, begeistert sich Wilhelm, der als Kind im Münsterland mit Pferden aufgewachsen ist.

Im Dorf Hollum ist richtig was los, wenn das Boot kommt.
Im Dorf Hollum ist richtig was los, wenn das Boot kommt. © Susanne Völler | Susanne Völler

Zwei Kilometer sind es vom Dorf zum Strand, und lange, bevor wir Rettungsboot und Pferde sehen, hören wir sie: die donnernden Hufe auf dem Asphalt, das Wiehern der erregten Stuten, das Rattern des schweren Trailers, der über Ketten läuft und das Boot zum Strand bringt. Zehn kräftige Tiere ziehen gut neun Tonnen zum Meer. Hinzu kommen die lauten Rufe der Männer, alles Ehrenamtler, und das Schrillen der Pfeife, mit der der Baas die Pferde dirigiert. Der Chef läuft vorneweg und gut 20 Männer hinterher. Sie halten die Tiere in Schach – keine leichte Übung.

Wahre Heldinnen

Die Schaulustigen am Strand und auf den Dünen sind merklich angespannt. Wir auch. Die Stuten strahlen eine enorme Kraft aus, als sie auf das Meer zutraben. Zwei Pferde werden aus-, die anderen umgespannt: Je vier laufen jetzt links bzw. rechts vom Boot. Die Männer kleiden sich in Schwimmwesten und wasserfestes Ölzeug, auf den Jacken steht Schwarz auf Gelb: Paardenreddingboot. Einige Pferde keilen aus, schnauben kräftig, steigen hoch.

Endlich geht es unter lautem Getöse durch die Brandung in die See – für die Vierbeiner nicht ohne. Doch gehorsam ziehen sie die Abraham Fock durch die Wellen und werden abgekoppelt, sobald Wasser unterm Kiel ist. Nun rollt das Rettungsboot vom Transportwagen und dreht seine Runden. Nach gut einer Viertelstunde ziehen die Pferde das Boot wieder aus der Nordsee heraus.

Auch am Strand warten viele Schaulustige.
Auch am Strand warten viele Schaulustige. © Susanne Völler | Susanne Völler

Was heute Show ist, war bis 1988 Alltag – und das schon seit 1824. Damals wurde die Niederländische Seenotrettung gegründet, die Koninklijk Nederlands Redding Maatschappij (KNRM). Ameland war eine der ersten Gemeinden, die ein Rettungboot erhielt.

„Egal, ob es eine fiese Januarnacht oder ein lauer Sommertag war, Windstärke 10 oder windstill, eiskalt oder ein Hagelschauer runterkam – Männer und Pferde mussten raus“, erzählt uns Jan de Vries, Crewmitglied der Abraham Fock. Der weißhaarige, wettergegerbte Amelander mit dem Seemannsbart, auch er ein Ehrenamtler, sammelt mit der Spendenbox für die KNRM. Diese ist bis heute allein spendenfinanziert.

Ein schwarzer Tag für die Insel

„Inzwischen sind wir einzigartig in den Niederlanden“, erklärt Jan, „das einzige Pferderettungsboot des Landes!“ Seit 1824 habe die Amelander Seenotrettung 500, vielleicht sogar 600 Menschenleben gerettet, erzählt er stolz. Heute seien es vor allem Touristen, die die KNRM aus dem Wasser hole, und zwar mit einem der modernsten Speedboote des Landes. Noch bis 1989 fuhr die Abraham Fock aus. Zu diesem Zeitpunkt war sie das einzige Pferderettungsboot im Land. „Wir sind sehr stolz auf unsere Tradition“, sagt Jan de Vries. Daher kämen nicht nur Touristen zum Strand, sondern auch viele Einheimische.

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Bis auf ein Mal lief alles gut mit dem Rettungsboot. „Der Tag, an dem es schiefging, war der 14. August 1979.“ An diesem Hochsommertag wollte man einer in Seenot geratenen deutschen Yacht zu Hilfe eilen. Die Pferde gerieten in eine Untiefe, konnten nicht schnell genug abgekoppelt werden und wurden 25 Meter tief in den Abgrund gerissen. Alle acht ertranken. Ein furchtbarer Schlag für die Insel. Dennoch entschied man sich weiterzumachen. Noch zehn weitere Jahre fuhr die Abraham Fock aus, um Menschenleben zu retten.

Die Erinnerung lebt weiter

„An die ertrunkenen Stuten erinnert heute das Paardengraf nicht weit von hier, wo alle acht beerdigt wurden“, berichtet Seenotretter Jan. Das sei in den Niederlanden zwar verboten, „aber die Bauern wollten ihre Tiere bei sich behalten, hier auf der Insel.“

Tipps und weitere Infos über Ameland

Die nächsten Termine für die Pferderettungsboot-Demonstration: 19. Februar. 17 Uhr, 30. März, 11 Uhr, 2. Mai, 17 Uhr. Start ist am Maritiem Centrum, Abraham Fock: Oranjeweg 18, , Hollum (Öffnungszeiten: Montag bis Samstag, 13 bis 17 Uhr).

Ausbringen des Boots am Strand südwestlich von Hollum am Ende des Tjettepads. Weitere Infos hier

Vom Wasser aus zuschauen: auf der MS Zeehond, MS Ameland oder Schuurman Charters.