Am Niederrhein.

Der Rhein ist nicht bloß ein Fluss. Er teilt die Menschheit in zwei Gruppen: Linksrheiner und Rechtsrheiner. Am Niederrhein versucht die Politik, diese „Grenze“ zu überwinden. Das ist eine Herkulesaufgabe, deren Erfolg in den Sternen steht.

Im Fußball ist die Welt noch in Ordnung. Wer das bisher nicht wahrhaben wollte, hier der unumstößliche Beweis: Im Niederrheinischen Fußballverband sind linke und rechte Rheinseite strikt voneinander getrennt. Linksrheinische Vereine wie der SV Sonsbeck oder der TuS Xanten gehören zum linksrheinischen Fußballkreis Moers und rechtsrheinische Fußballclubs wie der VFB Rheingold Emmerich oder der SV Rees zum rechtsrheinischen Fußballkreis Rees/Bocholt.

Fußballer sind hier im Norden des niederrheinischen Beckens die wahren Rebellen. „Der Fußballverband Niederrhein hat die Gebietsreform 1975 nicht mitgemacht“, erklärt Wolfgang Jades, Präsidiumsmitglied des Fußballverbandes.

„Der Fluss ist überall. Die Brücke ist nur singulär.“

Da Fußballer aber nur höchst selten in der Politik ein Wörtchen mitzureden haben, löste diese 1975 die Kreise Dinslaken, Rees, Moers und Geldern auf und verteilte ihre Städte auf die Kreise Kleve und Wesel. Viele Kommunen werden seitdem durch den Rhein von ihrer Kreisstadt getrennt.

Neue Rheinbrücke in Wesel. Foto: Hans Blossey
Neue Rheinbrücke in Wesel. Foto: Hans Blossey © Hans Blossey

Die Politiker haben es bestimmt nur gut mit den Niederrheinern gemeint. Vor 1975 mussten die Emmericher eine Strecke von 41 Kilometern auf sich nehmen, um in ihre Kreisstadt zu gelangen. Damals war Wesel Kreisstadt im Kreis Rees. Die neue Kreisstadt Kleve liegt dagegen nur zwölf Kilometer von der eigenen Haustür entfernt.

Aber obwohl zwischen Emmerich und Kleve die längste Hängebrücke Deutschlands gebaut wurde, bleibt der Fluss in den Köpfen vieler Niederrheiner eine unüberwindbare Grenze. Ein Erklärungsversuch von Ansgar Müller, Landrat des Kreises Wesel: „Der Rhein bleibt immer eine Trennung. Der Fluss ist überall. Die Brücke ist nur singulär.“

„Klemmericher Rheinbrücke“

Rheinbrücke zwischen Emmerich und Kleve. Foto: WAZ-Fotopool
Rheinbrücke zwischen Emmerich und Kleve. Foto: WAZ-Fotopool © NRZ

Sogar der Name einer Brücke wird am Niederrhein zum Streitpunkt. Für die Bewohner der rechten Rheinseite ist es die „Emmericher Brücke“. Ihre linksrheinischen Nachbarn sprechen hingegen von der „Klever Brücke“, wenn sie den Rhein überqueren. Gut gemeinte Kompromissversuche der Politik, wie die Umbenennung in „Klemmericher Rheinbrücke“, können daran auch nichts ändern.

Neben den Fußballern ignorieren auch andere Gruppen hartnäckig das Bestreben der Politik, die beiden Flussufer miteinander zu verbinden. So gehören die rechtsrheinischen Emmericher Schützen nach wie vor zum rechtsrheinischen Bezirksverband Rees. Sowie das linksrheinische Xanten Teil des linksrheinischen Kirchenkreises Moers ist.

Linksrheinische Hochkultur und rechtsrheinische Barbarei

Prof. Dr. Jörg Engelbrecht von der Universität Duisburg-Essen erklärt, warum es den Niederrheinern so schwer fällt, die Grenze „Rhein“ in ihren Köpfen zu überwinden: „Schon Julius Caesar hat gesagt‚ die Germanen siedeln jenseits des Rheins. Das linke Rheinufer wurde von den Römern beherrscht. Auf der rechten Seite war die ‘Germania libera’, ‘das freie Germanien’“, erklärt der Historiker. Bis heute habe sich dieses Gefühl von der linksrheinischen Hochkultur und der rechtsrheinischen Barbarei in den Köpfen der Menschen gehalten.

Prof. Dr. Jörg Engelbrecht von der Universität Duisburg-Essen
Prof. Dr. Jörg Engelbrecht von der Universität Duisburg-Essen © WAZ

In der so genannten Französischen Zeit habe sich die Trennung zwischen linkem und rechtem Flussufer dann weiter gefestigt, erläutert der Professor. Die linke Seite des Rheins eroberte der französische Erbfeind, auf der rechten Seite lebten die deutschen Vorfahren.

Sie wollen nicht zum Kohlenpott gehören

Laut Professor Engelbrecht muss man aber gar nicht so weit in der Geschichte zurückgehen. Der Kreis Wesel gehöre zum Regionalverband-Ruhr, einer Organisation der Städte und Kreise des Ruhrgebiets. Viele Städte, die 1975 dem Kreis Wesel zugeteilt wurden, fühlten sich als Reformverlierer. Sie wollten zum Niederrhein gehören und nicht zum unbeliebten Kohlenpott, vermutet der Niederrheinexperte.

Das trifft wohl insbesondere auf die linksrheinischen Städte zu, denn bis heute haben sich am Niederrhein zwei Vorurteile hartnäckig gehalten. Die rechte Rheinseite denkt, dass auf der linken Seite nur „Bauern“ leben. Die linke bezeichnet die Bewohner der rechten Rheinseite gerne als „Kumpel“. Als ob der Bergbau ein Alleinstellungsmerkmal der rechten Rheinseite gewesen wäre. Die linksrheinische Zeche Friedrich Heinrich in Kamp-Lintfort wird da wie Niederberg in Neukirchen-Vluyn oder Rheinpreußen in Moers gerne vergessen.

„Der Rhein hat auch eine verbindende Funktion“

Der Direktor des Instituts für Niederrheinische Kulturgeschichte hat noch eine weitere Erklärung dafür, dass die Bewohner auf den beiden Seiten des Stroms lieber unter sich bleiben: „Die erste Rheinbrücke wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Köln gebaut.“

Als völlig hoffnungslos würde Professor Engelbrecht die Region Niederrhein aber nicht bezeichnen: „Der Rhein hat durchaus auch eine verbindende Funktion“. Die 1815 gegründete Rheinschifffahrtskommission in Straßburg sei beispielsweise die älteste europäische Behörde.

Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.