Wesel. Gijs Wilbrink ist im Achterhoek aufgewachsen, gleich an der deutsch-niederländischen Grenze. Sein Debütroman erzäht davon.

Gijs Wilbrink wurde 1984 unweit der deutschen Grenze geboren, im niederländischen Doetinchem. Sein Debütroman „Tiere“ zählte zu den literarischen Entdeckungen der diesjährigen Leipziger Buchmesse. Auch der Roman spielt im Achterhoek, im Örtchen Ulft, ganze sieben Kilometer von Anholt entfernt. Wilbrink ist in den 1990er Jahren in Ulft aufgewachsen und aus dieser Zeit erzählt auch „Tiere“. Im Original 2022 erschienen, schaffte es „Tiere“ bis in die niederländischen Bestsellerlisten und der Autor, der acht Jahre an dem Roman geschrieben hat, konnte sich auch über gute Kritiken und ein paar Literaturpreise freuen. Gijs Wilbrink kommt am 18. Juni nach Wesel und wird dort aus seinem Roman lesen. Und weil er auch Musiker ist, wird er auch den einen oder anderen Song zum Besten geben.

Herr Wilbrink, in Ihrem Roman „Tiere“ spielt die deutsche Grenze eine Rolle. Warum?

Ich bin an der deutschen Grenze aufgewachsen, ein Gebiet, das für den Rest der kleinen Niederlande noch ziemlich mysteriös ist und sich darum gut für Romane nutzen lässt. Grenzgebiete sind immer eine Brutstätte für starke Erzählungen, zum Beispiel über Schmuggel oder Wilderei. Aber dort herrscht auch eine spezielle Art von Heimatlosigkeitsgefühl: Du wohnst am Rande eines Landes und gehörst damit nicht ganz zu diesem Land, aber du gehörst auch nicht zu dem Land auf der anderen Seite der Grenze. Dieses Gefühl hat auch meine Hauptperson Isa, die ihr Dorf verlässt und nach Utrecht geht, um Kunstgeschichte zu studieren.

Heimat, Heimweh - ein sehr deutsches Thema

Sie zieht buchstäblich vom Rand in die Mitte des Landes – und fühlt sich eigentlich nirgendwo zuhause. Eigentlich ein sehr deutsches Thema, ich muss dabei an die deutschen Worte Heimat, Heimweh, Fernweh denken, an die Novelle „Tonio Kröger“ von Thomas Mann. Aber „Tiere“ ist vielleicht eine etwas modernere und wildere Version, mit Wilderei, Motocross, Punk-Musik, Kunst und Aktivismus.

Ihre Hauptfigur Isa studiert Kunst und liebt van Gogh. Was verbindet Sie mit Kunst und mit van Gogh?

Isa kommt aus der berüchtigtsten Familie entlang der Grenze, der Familie Keller, Nest von Wilderern und illegalen Nerzzüchtern. Ich suchte einen Kontrast zu diesem rauen, schmutzigen Hintergrund. Als ich Gemälde von Van Gogh im Kröller-Müller-Museum bei Arnheim sah, erinnerten mich seine frühen Bauernportraits an Isa, deren Hintergrund waren ebenso streng und grau. Da wusste ich, dass sie Kunstgeschichte studieren musste: Durch Kunst kann sie über ihren Hintergrund, aber auch über ihren Zufluchtsort nachdenken, und dabei Schönheit finden.

Der Roman handelt von Isas Erwachsenwerden in den 1990er Jahren, als Sie selbst als Jugendlicher in Ulft gelebt haben. Schreiben Sie da auch autobiografisch?

Nein. Ich nutze freilich viele Elemente des Ortes, an dem ich aufgewachsen bin und im Buch stecken auch Anekdoten von Onkel und Tanten, so das Wildern nach dem II. Weltkrieg. Aber der Roman ist Fiktion.

Das Buch, die Lesung

Die Lesung: Gijs Wilbrink: „Tiere“ Lesung, Diskussion, Musik.
Donnerstag, 18. Juni, 19 Uhr, Einlass ab 18:30 Uhr; Stadtwerke Wasserturm, Brandstraße 44, 46483 Wesel. Eintritt: Sieben Euro im Vorverkauf, neun Euro an der Abendkasse. Karten-Vorverkauf: Buchhandlung Korn (0281/21876); Stadtwerke Wasserturm (02 81/9 66 01 01).

Das Buch: Gijs Wilbrink: „Tiere“, Ullstein Verlag, 448 Seiten, 24 Euro.

Isas Vater verschwindet. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Die Details davon sind persönlich. Aber ich habe gelernt, dass, wenn eine Familie so etwas Heftiges erlebt, die harte Arbeit erst danach beginnt: Die Familiendynamik steht auf dem Kopf, als Kind darfst du deine Eltern nicht mehr allein lassen. Das wollte ich zeigen in diesem Roman – wie ein traumatisches Ereignis die eingerosteten Muster einer Familie aufbrechen kann. Darum ist „Tiere“ die Geschichte über das Geheimnis eines Verschwindens, das bereits in der Mitte des Buches gelöst wird und nicht erst am Ende: um zu zeigen, dass die harte Arbeit danach beginnt.

Isa hängt gern auf Punkrock-Konzerten ab. War das auch Ihre Welt damals? Und kam rebellischer Punkrock tatsächlich bis in Dörfchen wie Ulft?

In der Umgebung von Ulft gab es in den 90er Jahren eine große Punkszene, die mich geformt hat. Selbst Dinge organisieren, sich nicht mit dem Status Quo abfinden, ab und zu gegen etwas angehen, wenn es nötig war. Auf den kleinen Konzerten wurden auch schon viel über Dinge gesprochen, die gegenwärtig in den Talkshows Thema sind: Feminismus, Antirassismus, Tierrechte. Das fand ich interessant zu zeigen.

„Tiere“ liest sich gelegentlich wie eine – teils sehr humorvolle – Abrechnung mit der Rolle der Katholischen Kirche in jener Zeit. Hat die Kirche damals tatsächlich so stark in die Familien hingewirkt?

Ich sehe das nicht als eine Abrechnung, sondern als Beobachtung, wie die Kirche in den Dörfern weniger wichtig wurde. Vor sechzig Jahren hatte der katholische Pastor einen enormen Einfluss in Ulft und in meiner Familie: Als mein Großonkel mit einem protestantischen Mädchen Kontakt hatte, war er zuhause nicht mehr willkommen. Als meine Großeltern ihr Baby verloren, stand der Pastor binnen einiger Wochen wieder auf der Schwelle, um ihnen zu sagen, sie müssten für neue Kinder sorgen.

In „Tiere“ geht es auch um die Nerzzucht von Isas Onkel. Die Nerze verfolgen die junge Frau bis in ihre Träume. Ist „Tiere“ auch ein Roman über Tierschutz?

Es ist ein Roman über die unterschiedlichen Werte zwischen Stadt und plattem Land. Über den Umgang mit Tieren beispielsweise wurde deutlich anders gedacht. Es war ein schöner Kontrast, Isa, die aus einem Nest von Tierquälern kommt, zu einer Tierschutzaktivistin zu machen.

Ihr Roman spielt in der tiefsten Provinz. Welche Rolle spielt das Leben in der Provinz generell in der niederländischen Literatur? War es leicht, einen Verlag über ein Buch aus dem Achterhoek zu finden?

An der niederländischen Literatur wird oft kritisiert, dass zu viele Bücher in Amsterdam spielen und dass es oft kleine, introvertierte Erzählungen sind. Doch es sind in den letzten Jahren große Romane erschienen, die auf dem Land spielen: von Lucas Rijneveld, Tommy Wieringa, Lize Spit – und es sind zufällig diese Bücher, die auf den Bestsellerlisten landeten. Ich finde es sehr schön, von den Lesern zu hören, dass meine Geschichte nicht notwendig im Achterhoek spielen muss, sondern dass jeder, der in einem Dorf aufgewachsen ist, sich darin wiedererkennt. Es stellt sich als universelle Erzählung heraus, die über den Achterhoek hinausgeht. So waren denn auch sieben Verlage daran interessiert.

Ihr Buch wurde nicht nur ins Deutsche übersetzt und Sie waren u.a. auch schon in Spanien auf Lesereise. Wie ist denn dort die Reaktion auf „Tiere“?

Viele spanische Leser finden, dass „Tiere“ sich genauso gut auf Spaniens plattem Land hätte abspielen können. Das ist sehr lustig zu hören.

Die Menschen Ihres Publikums in Wesel werden den Achterhoek kennen. Was erwarten Sie vom Besuch im deutschen Grenzland?

Außer spannenden Gesprächen über Literatur, Kunst, Musik und das dörfliche Leben finde ich an so einem Abend eines besonders wichtig: Dass wir miteinander lachen können. Zum Glück gelingt das eigentlich immer.