An Rhein und Ruhr. Die Zahl der Schulrückstellungen steigt in Nordrhein-Westfalen seit Jahren deutlich an. Die Gründe dafür sind vielfältig

Sie können nicht bis zehn zählen, keinen Stift halten, nicht mit der Schere umgehen. Immer mehr Kinder sind schulpflichtig, aber nicht schulfähig. Die Zahl der Schulrückstellungen steigt in Nordrhein-Westfalen seit Jahren deutlich. Wurden im Schuljahr 2019/20 3218 Rückstellungen bewilligt, stieg die Zahl im Nach-Corona-Schuljahr 2022/23 auf 4866 Rückstellungen und aktuell im Schuljahr 2023/24 auf 5695 Kinder, die nicht eingeschult werden können, teilt das Schulministerium NRW auf Anfrage mit.

Nach dem NRW-Schulgesetz beginnt die Schulpflicht für jedes Kind, das bis zum 30. September sechs Jahre alt wird, am 1. August desselben Jahres. Rückstellungen werden „infolge erheblicher gesundheitlicher Gründe, gegebenenfalls auch auf Antrag der Eltern vorgenommen“, erklärt das Ministerium. Aber neben den rein körperlich bedingten Gründen werden Rückstellungen auch genehmigt, wenn „langfristige Überbelastung der Kinder im Schulalltag“ prognostiziert wird. Mit dieser eher schwammigen Formulierung sind sehr häufig Defizite im sozialen, motorischen und sprachlichen Bereich gemeint. Oft fehlt Kindern aber auch Grundwissen, das sie zum Schuleintritt mitbringen müssten.

Die Schulleitung entscheidet

Dabei werden erheblich mehr Anträge auf Rückstellungen gestellt, als tatsächlich genehmigt werden. Der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst spricht lediglich Empfehlungen aus, die Entscheidungen aber trifft die Schulleitung auf der Grundlage des amtsärztlichen Gutachtens. In Duisburg wurde für das Schuljahr 2019 bei 3,4 Prozent der 4645 Kinder vom Amtsarzt eine Rückstellung empfohlen, für das Schuljahr 2022 betraf die Empfehlung 4,3 Prozent der 4072 ärztlich untersuchten Kinder. Im Jahr 2023 waren es 3,9 Prozent der 4682 Kinder. Wie die Stadt Duisburg mitteilt, liegen die Zahlen der tatsächlich zurückgestellten Kinder dem Gesundheitsamt nicht vor.

In der Stadt Moers waren es 30 Kinder, die schon Ende März 2024 für Rückstellungen in Frage kamen. Tatsächlich zurückgestellt wurden in Essen im Coronajahr 20/21 bei 5374 Einschulungen 39 Kinder (0,73 Prozent). Im Jahr 22/23 waren es 25 Kinder und im Schuljahr 23/24 betraf es 34 Kinder (0,58 Prozent), die bei 5906 Einschulungen zurückgestellt wurden. „Die Coronajahre mit den massiven Auswirkungen auf die Kinder sind ja vorbei“, sagt Tülay Salmann, Rektorin der Gemeinschaftsgrundschule Eschenstraße in Duisburg-Hochfeld. Aber gebessert hat sich die dramatische Lage nicht.

Vor allem die Kinder, die nicht oder selten die Kita besuchen, haben große Defizite, erklärt die Schulleiterin. Es gebe viele Eltern, die nicht berufstätig sind und den Nachwuchs nicht in den Kindergarten schicken. Manchmal liege es auch einfach daran, dass sie keinen Kitaplatz bekommen. „Natürlich gibt es bei uns auch viele Kinder, die absolut fit in allen Bereichen sind“, sagt die Rektorin. Aber im Schulbezirk, der Duisburg-Wanheimerort umfasst, leben viele Kinder, die gar kein Deutsch sprechen, das betrifft auch Seiteneinsteiger, wenn Menschen aus dem Ausland nach Deutschland kommen, deren Kinder schulpflichtig sind. Andere haben keine mathematischen Grundkenntnisse. „Wenn drei Würfel vor ihnen liegen, können sie die Zahl nicht benennen, ohne ihre Finger zu Hilfe zu nehmen“, erklärt Tülay Salmann. Andere Kinder haben Probleme mit der Aussprache, so dass man sie kaum verstehen kann.

Es werden den Eltern dann Hilfsmöglichkeiten angeboten, zum Beispiel mit dem Nachwuchs einen Logopäden oder Ergotherapeuten aufzusuchen. Manchmal weigern sich die Eltern, andere nehmen die Hilfe gerne in Anspruch, bekommen aber keine Termine. Vor allem in bildungsfernen Elternhäusern kommt es zu vielen Defiziten bei Kindern – zum Beispiel, wenn in Familien nicht vorgelesen, gespielt oder viel gesprochen wird. Eine gravierende Ursache für die Entwicklungsverzögerungen sieht die Schulleiterin im übermäßigen Konsum von neuen Medien – durch Handys, Tablets und Videospiele.

Förderung in der Kita

Viele Städte bieten schon in den Kitas Möglichkeiten an, Kinder besonders zu fördern. In Duisburg gibt es im Bereich „Schriftkultur, Sprache und Kommunikation“ Leseprojekte mit Vorlesepaten. Den Umgang mit Zahlen können die Kinder in dem Projekt „Zahlenwerkstatt“ lernen. Auch musische und künstlerische Bildung findet in Form von Atelierarbeit, Bastelprojekten oder Musikangeboten statt. Im Bereich Medienpädagogik gibt es das Projekt „Digifit“. Tanz-, Sport- und Bewegungsangebote werden in den Kita-Alltag eingebaut. In Düsseldorf wird eine „intensive, individuell angepasste Förderung“ in den Kitas angeboten. Gründe für die Rückstellungen werden in keiner Stadt gesondert erfasst, sodass es keine Statistiken gibt.

Die Beurteilungen über die Schulfähigkeit nehmen die Lehrkräfte vor Ort vor. Während in der Anmeldewoche die Eltern Anmeldebögen ausfüllen, machen die Kinder, die eingeschult werden sollen, ein Schulspiel. Die Eltern von auffälligen Kindern werden dann zu Gesprächen eingeladen, um die beste Förderung für die Kleinen herauszufinden. „Ich lasse aber kein Kind zurückstellen, nur weil es kein Deutsch spricht“, sagt die Schulleiterin. Denn es gebe auch an Grundschulen eine Reihe von Fördermöglichkeiten.

Deutsch-Förderbedarf ist kein Grund

„Alleiniger Deutsch-Förderbedarf ist kein Grund zur Zurückstellung“, sagt auch Annika Mester von der Pressestelle der Stadt Düsseldorf. Dort sank die Zahl der Rückstellungen nach der Corona-Pandemie von 2,4 Prozent der 5500 angemeldeten Kinder auf aktuell 2,1 Prozent der 5663 schulpflichtigen Kinder für das Schuljahr 2023/24. Ein Problem, dass sich durch mehr Rückstellungen ergeben kann, sind die benötigten Kindergartenplätze.

Viele Kitas kommen schnell an ihre Grenzen, wenn plötzlich viel mehr Kinder zurückgestellt werden und ein weiteres Jahr ein Kitaplatz für sie benötigt wird. Der Zweckverband Katholische Tageseinrichtungen für Kinder im Bistum Essen, der in rund 250 Einrichtungen 16.000 Kitaplätze zur Verfügung stellt, weist auch auf externe Unterstützungsangebote hin, die die Familien in Anspruch nehmen können, erklärt Lina Strafer, Referentin Kommunikation. Dadurch könne frühzeitig geplant werden, ob ein Kitaplatz für ein weiteres Jahr vorgehalten werden muss. In der Bedarfsplanung der Stadt Duisburg werden schon fünf Prozent an Rückstellungen eingeplant.