Mülheim. Erst Horror-Referendariat, dann nervige Kinder, klagende Eltern und am Ende der Burn-Out? Ein Mülheimer Lehrerpaar widerspricht entschieden.
Das hat man nicht alle Tage, dass jemand in der Redaktion anruft und erzählen will, dass die Welt nicht so schlimm ist, wie es in der Zeitung steht. Christian Spieß hat es getan. „Mir geht die negative Berichterstattung über den Lehrerberuf zu weit“, sagt er. Und will erzählen, warum für ihn das Pädagogenleben immer noch ein Traum ist. Und für seine Frau ebenfalls.
Vorsichtige Nachfrage: Auf welcher pädagogischen Insel der Seligen dürfen Sie denn unterrichten? Sarah Spieß unterrichtet am Gymnasium und bevor man denkt: Na, klar, da ist die pädagogische Welt ja auch schön, erzählt sie: Es ist das Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium. Mitten in Marxloh. Schulsozialindex Stufe 6. Die Zeugnisnoten reichen hier von 1 bis 9. Von den gut 500 Gymnasien im Land haben eine gute Handvoll einen noch niedrigeren Index. Nix Insel der Seligen.
Im Sozialindex ganz unten, in der Stimmung ganz oben
Und Christian Spieß? Fasia-Jansen-Gesamtschule Oberhausen-Mitte. Bei dem eben erwähnten Index eine 9, quasi ganz unten. Aber für ihn dennoch das Höchste. Da hat er schon unterrichtet als Vertretung, bevor er mit dem Referendariat begann. Katholische Religion. Heute sind Religion und Biologie dort seine Fächer.
Und der 39-Jährige schwärmt davon, wie begeisterungsfähig seine Schülerinnen und Schüler sind. Letzte Tage erst kamen 40 von ihnen, waren im Nieselregen dabei, als es galt, bei einer Altentagesstätte die Grünanlagen umweltfreundlicher umzugestalten. Ohne Meckern.
Vielleicht, weil seine Begeisterung für das Fach ansteckt: Im kleinen Garten hinter dem Reihenhaus in Mülheim-Heißen wartet ein Bienenhotel auf Überwinterungsgäste. Neben der Schaukel für die beiden Söhne hat er ein kleines künstliches Feuchtgebiet für fleischfressende Pflanzen geschaffen.
Die Grenzen zwischen Privatleben, Hobby und Beruf – sie sind für ihn fließend. „Wenn ich im Baumarkt Pflanzen für den Garten kaufe, schaue ich auch gleich, was ich davon im Unterricht verwenden kann und nehme auch für den Kollegen noch eine Pflanze mit, deren Blätter sich gut mikroskopieren lassen“, erzählt er. Und wenn ihm abends vorm Fernseher auffällt, dass diese Doku womöglich in den Unterricht passt: Ist das dann Freizeit oder schon wieder ein Hauch Arbeit?
„Wir haben sicherlich keine 40-Stunden-Woche“
„Wir haben sicherlich keine 40-Stunden-Woche“, sagt auch seine Frau, die Kunst und Deutsch unterrichtet. „Wenn die Stunde zu Ende ist, ist ja nicht die Arbeit vorbei. Man schaut, dass der Fegedienst erledigt wird, tröstet die Schülerin, die da noch sitzt und weint, schlichtet auf dem Schulhof einen Streit zweier Mitschüler und drückt den Rauchern vom Schultor noch einen Spruch.“ Und ja, es gilt auch: „Es gibt immer auch Schülerinnen und Schüler, die nimmt man mit nach Hause.“ Innerlich, versteht sich. Und da zum Selbstschutz die Grenzen zu ziehen, das ist nicht immer leicht.
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Und die Schülerinnen und Schüler, die jetzt auf die Straße gegangen sind und deutlich mehr Investitionen in Bildung gefordert haben, haben die unrecht? „Sicher nicht“, sagt die 41-Jährige. „Bei uns war die Heizung lange kaputt in diesem Winter, in den Kunstraum regnet es rein und wir haben eine Sozialarbeiterin für 900 Schülerinnen und Schüler.“
In Oberhausen ist die Unterstützung durch Sozial- und Sonderpädagogen deutlich größer, schildert ihr Mann. Multiprofessionelle Teams nehmen manche Last von Lehrerschultern. Auch in der Ausstattung werde vieles besser, sagt er. „Ich habe den Eindruck, dass sich da einiges bewegt und mehr getan wird“, sagt er. Auch, wenn es klammen Kommunen wie Oberhausen und Duisburg besonders schwerfällt. „Aber es gibt keine bessere Investition als in Bildung“, sagt Spieß.
Der Burnout droht vor allem Perfektionisten
Was ihn und seine Frau im Schulalltag trägt: die Unterstützung im Team. Mag das Lehrerzimmer womöglich ein Biotop sein, es ist eines, in dem die Pädagogen aufblühen. „Ich würde sagen: Ein Burnout droht vor allem denjenigen, die zu perfektionistisch sind“, sagt Sarah Spieß. Denn weder Kinder noch Pädagogen noch die Ausstattung sind perfekt und jeder Plan für den Unterricht muss womöglich einem Provisorium weichen.
Aber das kann ihr die Freude am Unterrichten nicht nehmen. Kunst und Deutsch sind ihre beiden Fächer. Deutsch macht Arbeit und Kunst macht Spaß, oder? „Naja“, sagt sie. Kunst unterrichten ist auch nicht immer leicht, auch da gibt es Klausuren und Tests und weder die Schüler noch die Eltern sind da gut zu packen. Wegen einer Fünf in Kunst gibt es kaum Ärger zu Hause, bei der Fünf in Deutsch schon.
„Kunst eröffnet mir einen ganz anderen Zugang zu den Schülern“, sagt sie und erzählt von der ukrainischen Schülerin, die in Deutsch gar nichts sagte und auch nach fast einem Jahr noch mit der Übersetzungs-App fragte, ob sie zur Toilette dürfte. Aber sie hatte offenbar Talent und Interesse am Zeichnen. Dafür musste sie mit ihrer Lehrerin ins Gespräch kommen. Über den Kunstunterricht, wo die Kinder und Jugendlichen beim Zeichnen und in den Gruppenarbeiten miteinander reden, lernt sie ihre Klasse noch einmal ganz anders kennen.
Über das Zeichnen ins Gespräch kommen
Vor allem aber: In aller Regel hat sie die Eltern auf ihrer Seite. „Fast alle Kinder dort streben einen höheren Schulabschluss an als ihre Eltern. Die nehmen das, was Lehrer sagen, durchaus ernst.“ Da ist wenig übrig von dem, was sie „Dienstleisterattitüde“ der Eltern nennt: Kinder am Schultor abgeben und erwarten, dass sie perfekt erzogen und gebildet wieder herauskommen. Hatte sie, so ähnlich, während ihrer Referendariatszeit an einem Düsseldorfer Gymnasium. Da wurde weniger von den Kindern als von den Lehrern die Leistung gefordert: „Da waren 15 Notenklagen fast nichts. Wenn wir in Marxloh mal eine haben, ist das schon viel.“
Warum der Rotstift so unbeliebt ist
Und wie war die Referendariatszeit? „Schön“, sagt Christian Spieß. „Ich hatte gute Fachleiter, eine gute Ausbildung. Es hat mir Freude gemacht.“ Er schränkt ein: „Es ist für viele sicherlich schwierig, als Mensch Ende 20, Anfang 30 noch einmal so abhängig zu sein von Bewertungen von außen.“ Klappt es mit der Lehrerprüfung nicht, stehen da längst Erwachsene zunächst mal vor den Trümmern einer zweijährigen Ausbildung und eines noch längeren Fachstudiums.
Mit dem Bewerten ist das ohnehin so eine Sache: Die Arbeit mit dem Rotstift ist auch im heimischen Wohnzimmer mit dem Blick in den Garten bei beiden die meist gehasste Aufgabe. Und letztens hat Sarah Spieß erstmals gespürt, wie sich ein Elternsprechtag auf der anderen Seite des Schreibtischs anfühlt: Sohn Anton ist seit letztem Sommer in der Schule. „Da sitzt mir jemand gegenüber und erlaubt sich ein Urteil über mein Kind!“
Immerhin: Wenn sie da so nebeneinander sitzen, mit zusammen mittlerweile einem guten Vierteljahrhundert Berufserfahrung in Korrekturen und Unterrichtsvorbereitung, kommen ihnen ihre sehr unterschiedlichen Fächer konstruktiv in die Quere: Wenn Sarah Spieß mit ihren Schülern im Kunstunterricht Stop-Motion-Filme konzipiert, Filme, die Bild für Bild erstellt werden, dann fällt ihrem Mann auf: Hey, diese Art von Zeitlupe ist ideal, um Pflanzenwachstum zu dokumentieren.
Und schon steht da wieder eine Idee für den Unterricht. Der, und da sind sich die beiden einig, für Lehrende wie Lernende immer anspruchsvoller wird. Von wegen, die Kinder sind faul und die Abinoten werden verschenkt: „Mein Eindruck ist: Von den Jugendlichen wird immer mehr verlangt“, sagt Christian Spieß. Und von den Lehrern Unterrichtsvorbereitung, Nachbereitung, Klausuren korrigieren: Mit den offiziell 14 Unterrichtsstunden bei ihr und den 28 bei Christian Spieß ist es nicht getan. „Es gibt Wochen, da haben wir unheimlich viel zu tun, aber es gibt auch Phasen, da ist es weniger.“ Jedenfalls bedeuten sehr sicher zwölf Wochen Ferien nicht zwölf arbeitsfreie Wochen.
Am Ende des Schuljahres wartet ein großer Abschied
Vor den Sommerferien, die bei Lehrern maximal fünf Wochen dauern und auch bestückt sind mit neuen Unterrichtskonzepten und vielen Konferenzen, kommt auf Christian Spieß tatsächlich noch ein Schultag zu, an dem er schweren Herzens zur Schule geht. Er gibt seine Zehnte ab. Nach sechs Jahren gemeinsamen Lernens und auch Lebens machen die Jugendlichen, die er noch als Kinder kannte, ihren Abschluss.
Was ihm den Abschied etwas leichter macht: „Sie sind alle versorgt.“ Niemand fällt ins Bergfreie und er darf hoffen, dass vielleicht einige in ein paar Jahren wieder zurückkehren: Als junge Referendarinnen und Referendare, die er fürs Lehrerleben begeistern konnte. Ist bei ihm schon vorgekommen.