Essen. Der Landesinnenminister sieht die Demokratie in Gefahr. Im Interview erklärt er die Gründe und was er von einem AfD-Verbot hält.
Innenminister Herbert Reul (CDU) gilt als einer der beliebtesten Politiker in der Landesregierung. Der Zustand der Demokratie beunruhigt ihn, hat der 71-Jährige bei einem Redaktionsbesuch erzählt.
Im Interview erklärt Reul, was passieren muss, was den Menschen nach seiner Ansicht am meisten unter den Nägeln brennt und ob ein Verbot der AfD sinnvoll ist.
Herr Reul, bei einer Befragung der Friedrich-Ebert-Stiftung hat im vergangenen Jahr weniger als die Hälfte der Befragten gesagt, sie sei mit der Demokratie zufrieden. Wie besorgt sind Sie?
Ich habe Riesensorge. Ich bin kein Schwarzmaler, ich bin Optimist. Aber wir haben zurzeit 30 Prozent Nichtwähler, 20 Prozent AfD-Wähler und 67 Prozent, die mit dem Staat nichts mehr anfangen können. Das kenne ich nur aus den Geschichtsbüchern. Das ist brandgefährlich.
Wo sehen Sie das größte Gefährdungspotenzial?
Alles, was rechtsextrem ist. Weil das in die Gesellschaft reinwabert. Weil das am Ende dazu führt, dass so viele Menschen sagen, wir können mit dem Staat nichts mehr anfangen. Das ist das größte Drama. Wenn die Leute dem Staat nicht mehr vertrauen.
Klingt dramatisch. Was folgern Sie daraus?
Es geht darum, den Mut zu haben, Wahrheiten auszusprechen und Probleme ehrlich zu benennen. Das Wichtigste ist derzeit, wieder Vertrauen aufzubauen. Mir hat mal ein Umfrageexperte vor zwanzig Jahren gesagt: Vertrauen bekommt man nicht mit Prospekten und großen Sprüchen, sondern nur mit konkretem Handeln.
Was konkret muss Politik denn tun?
Meine Aufgabe als Innenminister ist: für Recht und Ordnung sorgen. Die Polizei dort durchgreifen zu lassen, wo es notwendig ist. Beispiel Clans. Ich habe da ja gar nichts Besonderes gemacht. Ich habe nur etwas angepackt, was seit dreißig Jahren unterschwellig ein Thema war. So kriegt man Vertrauen.
Warum gelingt das nicht generell?
Die Maßstäbe stimmen nicht mehr. Wir haben riesige Fragen vor der Brust. Wir haben dramatische Sicherheits- und Bildungsfragen. Wir haben ungelöste Integrationsfragen. Aber die Politik in Berlin bringt lieber die Legalisierung von Cannabis auf den Weg.
Welche Rolle spielen wir als Medien?
Die Medien machen jedes Problem zu einem großen Problem und erwarten von Politikern sofort Antworten. Das funktioniert aber nicht. Ich wünsche mir mehr Nachdenklichkeit und Differenzierung. Gilt auch für die Politik. Man muss nicht immer wieder Antworten in Kameras sprechen, die nicht durchdacht sind und die am Ende keiner halten kann.
Was brennt den Menschen derzeit am meisten unter den Nägeln?
Migration ist das Schlüsselthema. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hat es einfach ausgedrückt: Wir können nicht unbegrenzt aufnehmen. Der Druck ist groß, und Berlin bietet nur Scheinlösungen an. Siehe das Thema Rückführungen. Es ist nicht die Lösung des Problems, wenn wir im Jahr so viele Menschen zurückführen, wie wir in einem Monat aufnehmen.
Wie wollen Sie das lösen?
Ein Anfang muss ein, sich ehrlich zuzugestehen, dass wir die Menge begrenzen müssen. Natürlich müssen wir Menschen in Not aufnehmen. Wir brauchen qualifizierte Zuwanderung. Aber wir müssen die ungesteuerte Einwanderung stoppen. Wie das geschehen kann, darüber müssen wir systematisch nachdenken.
Jetzt soll die Bezahlkarte für Flüchtlinge eingeführt werden, um Anreize zu verringern. Aber die Kommunen sollen das finanzieren und sind sauer.
Ganz ehrlich: Mit dem Hin und Her bei der Bezahlkarte verspielt die Politik weiterhin Vertrauen. Ich glaube nicht, dass sie die große Lösung ist. Aber die Ampel streitet wieder über eine solche Kleinigkeit, anstatt einfach zu liefern. Städte und Gemeinden brauchen jetzt dringend Klarheit. Die Migrationsfrage lässt keinen Aufschub zu.
Ein Problem der Demokratie ist es, dass sie ihre Feinde auf der Straße gegen sie demonstrieren lässt. In einer Diktatur wäre das nicht möglich. Der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer hat gesagt: „Die Demokratie ist die edelste Form, in der eine Nation zugrunde gehen kann“. Stimmen Sie diesem Satz zu?.
Nein, das halte ich für Quatsch. Ich bin ein großer Fan der Demokratie, sonst hätte ich meinen Job in den letzten Jahren nicht gemacht. Menschen müssen sich artikulieren können, ihre Meinung sagen, protestieren. Aber es braucht natürlich auch Regeln.
Sind Verbote und Zensur notwendig, um die Demokratie zu schützen?
Für die Einschränkung der Meinungsfreiheit gibt es nur einen Grund, nämlich die Attacke auf die Freiheit von Anderen. Kritik ist völlig in Ordnung. Sie glauben gar nicht, was die Leute alles über mich geschrieben haben oder mir schreiben. Ist okay, ist ihr Recht, wenn es keine persönlichen Angriffe sind.
Muss die AfD verboten werden?
Nein. Das haben wir schon bei der NPD versucht und es ist komplett in die Hose gegangen. Die würden dann zu Märtyrern. Das würde eher das Gegenteil bewirken. Die sitzen ja schon in den Parlamenten. Wir müssen uns mit denen streiten und mit ihnen auseinandersetzen.
Gerade gehen Hunderttausende Menschen gegen rechts und für die Demokratie auf die Straße. Macht das Hoffnung?
Ich bin begeistert davon. Das ist ein „Hallo-wach-Moment“. Mehr aber auch allerdings nicht. Ich habe Sorge, dass sich das totläuft. Wenn daraus nichts resultiert, und zwar bei uns als Politikern, dann war das umsonst, und dann sind auch diese Menschen enttäuscht. Sie müssen sehen, dass die da oben sich um das kümmern, was sie bewegt, aber auch sagen, was nicht geht.