Essen. Die Nächte sind eiskalt und lebensgefährlich für Menschen, die auf der Straße leben. In Essen können Obdachlose in Zelten übernachten.
Gerade sind zwei neue Gäste gekommen, die Zungen sind schwer, der Gang ist unsicher. Die Oberkörper der beiden Männer pendeln vor und zurück, während sie Elke Zbiera zuhören, die ihnen geduldig erklärt, wo sie schlafen können, was es zu Essen gibt, und was die Grundregel hier ist: „Einfach nur freundlich sein.“ Die beiden schlurfen in eines der beiden dunkelblauen Zelte. Raus aus der Kälte. Rein in die Wärme. In dieser Nacht droht ihnen nicht der Erfrierungstod.
Ein Gewerbegebiet in Borbeck im Essener Norden. In einem der schmucklosen Funktionsbauten, einem früheren Autohaus, ist die Bereitschaft des Roten Kreuzes untergekommen. In der großen Garage parken die Einsatzfahrzeuge, davor haben sie auf dem Hof zwei Zelte aufgebaut. Ein großer Heizlüfter pumpt über zwei Schläuche warme Luft hinein. Drinnen stehen Feldbetten, jeweils ein Tisch und Stühle. Es ist in diesen bitterkalten Nächten eine Zufluchtsstätte für obdachlose Menschen.
Die Helfer wollen Leben von Obdachlosen retten
Gegen halb neun sitzen Elke Zbiera und ihre Mitstreiter im Aufenthaltsraum. Es riecht nach frisch aufgebrühtem Kaffee, auf den Tischen stehen Konserven. Sie bereiten sich auf die Ankunft ihrer Gäste vor, die Stimmung ist gut, die Atmosphäre familiär. Am Sonntag haben sie die Zelte draußen aufgebaut, es ist das erste Mal in diesem Winter. Wenn die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken, werden Zbiera und die anderen Ehrenamtlichen aktiv. Sie wollen Leben retten.
„Wir sind hier so etwas wie der letzte Ort, wo die Obdachlosen hinkommen können“, sagt Zbiera. Hier brauchen die Gäste keinen Ausweis, hierhin können sie ihre Hunde mitbringen, hier müssen sie keine Angst vor Übergriffen haben. „Hier schlafen sie ruhig und sicher.“ Noch etwas unterscheidet diesen Ort von der städtischen Nachtschlafstelle, die von manchen Obdachlosen gemieden wird: Die Leute bekommen hier eine warme Mahlzeit, sie können duschen und am nächsten Morgen frühstücken.
Die meisten der Gäste, erzählt Zbiera, kommen von sich aus, viele regelmäßig, viele schon seit Jahren. Notfalls erhalten sie Fahrkarten, um aus der Stadtmitte zum nahegelegenen Bahnhof Borbeck fahren zu können. Andere sammeln die Helfer mit einem Kältebus ein. Falls einer der Hilfebedürftigen einen Hund hat, rufen die Rotkreuzler die Tiertafel an, um Futter oder Boxen für die Tiere zu organisieren. Essensretter bringen vorbei, was sie an übriggebliebenen Lebensmitteln von Bäckereien bekommen haben. Hier greifen viele ehrenamtliche Initiativen ineinander. Ein ehrenamtlicher Arzt wäre noch toll, vielleicht ein Friseur, überlegt Zbiera.
Gegen neun Uhr klopft es am Plexiglas der Essensausgabe. Der erste Gast ist da, es ist ein guter Bekannter. Kevin, 32, lebt seit vielen Jahren auf der Straße, er hat ein massives Alkoholproblem. „Ich bin ein Draußengänger und ein Einzelgänger“, erzählt er mit verwaschener Stimme. Er sucht sich nur dann eine Unterkunft, wenn die Nächte lebensgefährlich kalt werden, so wie jetzt. Kevin holt sich eine warme Suppe ab und einen heißen Tee, das richtige, um sich nach diesem Tag aufzuwärmen.
Kein Alkohol, keine Drogen in den Zelten
Alkohol oder Drogen zu konsumieren, ist in den Wärmezelten strikt verboten. Völlig alkoholisiert sollten die Gäste auch nicht sein. Aber die Helfer drücken manchmal ein Auge zu. „Wir hatten hier mal drei, die waren sehr betrunken, und haben auf dem Hof getanzt. Wir haben sie ihren Rausch ausschlafen lassen, aber ihnen gesagt, dass wir sie in dem Zustand nicht mehr hereinlassen“, erzählt Zbiera. Am nächsten Abend kamen die drei stocknüchtern an.
In einem der Zelte haben es sich mittlerweile fünf Männer gemütlich gemacht. Jeder hat ein Feldbett, einen Schlafsack, auch der wird ihnen gestellt, wenn sie ihn brauchen. Es ist eine Zufallsgemeinschaft, zusammengewürfelt von einem Leben, in dem alle keine gute Karten hatten. Kevin, der seit so vielen Jahren Draußengänger ist. Dirk, 38, der dem Verlust seiner Arbeit Ärger mit dem Amt hatte, Mietschulden anhäufte und jetzt seit vier Jahren auf der Straße lebt. Eddy und Edmund, die aus Lettland nach Deutschland kamen, um hier zu arbeiten. Alex, 41, der glaubt, Professor, Generalarzt und Bundeswehrbeauftragter zu sein und bald eine üppige Rente zu bekommen.
„Wir kommen hier gut untereinander klar“, sagt Dirk. Ein „Mega-Projekt“ sei das hier, kein Vergleich zu der städtischen Notschlafstelle. „Da kannst du beim Schlafen nicht die Schuhe ausziehen, weil dir alles gezockt wird.“ Edmund, 54, nestelt aus seiner Jacke ein gefaltetes Stück Papier, da ist die Kopie seines Ausweises drauf. Den Ausweis selbst hat er nicht mehr, den haben sie ihm geklaut, sagt er. „Zappzarapp“. Er lacht und zeigt sie wenigen Zähne, die er noch hat und die ihm den Spitznamen „Vampir“ eingebracht haben. Der gefällt ihm. Später wird er fragen, ob man wisse, wo Roberto ist, sein Freund, der verschwunden ist. „Viele Leute verschwinden einfach so“, sagt Dirk.
Gegen 22 Uhr sind bereits acht Gäste da. Als die beiden arg Betrunkenen in das zweite Zelt schlurfen, nachdem Elke Zbiera sie in Empfang genommen hat, schaut Kevin ihnen misstrauisch hinterher. Ob der eine nicht eigentlich Hausverbot habe? Zbiera überlegt. Kann sein. „Aber so ein Hausverbot ist ja nicht für ewig.“ Gegen Mitternacht wird das Licht in den Zelten ausgeknipst. Nachtruhe. Um sechs Uhr morgens werden die Helfer die Männer wecken. Dann bekommen sie das Frühstück, das sie am Abend bestellt haben und das die Rotkreuzler in der Nacht vorbereiten. Die Helfer bleiben wach.