Am Niederrhein. Er reitet und reitet – seit 2018 gehören Martinszüge sogar zum Weltkulturerbe. Aber wie haben es die Gänse in die Martins-Geschichte geschafft?
„Ich geh‘ mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir …“, so klingt es bereits seit einigen Tagen in den Städten und Dörfern des Niederrheins. Und so wird es auch heute Nachmittag wieder zu hören sein, denn schließlich ist der 11. November ja der eigentliche Martinstag. Dass schon die ganze letzte Woche Martinszüge in den Kommunen unterwegs waren, hatte eher organisatorische Gründe, damit Kitas und Grundschulen nicht alle auf einen einzigen Termin festgelegt waren und sich gegenseitig Konkurrenz machten.
Bei den hiesigen Martinszügen wird in aller Regel die Geschichte des römischen Soldaten vorgestellt, der am Wegesrand einen Bettler findet und dann aus Mitleid seinen (roten) Mantel zerschneidet und mit dem Hilfsbedürftigen teilt. Beim Umzug werden Martinslieder gesungen, ein Feuer wird entfacht und am Ende werden Martinstüten verteilt.
Wo kommt die Traditionder Martinsgänse her?
Das Ganze ist sehr auf Kinder ausgerichtet und akzentuiert das mitmenschliche Helfen. Immerhin ist der Martinszug, der in dieser Form erst in den 1860er Jahren im Rheinland entstanden ist, seit 2018 von der UNESCO als Immaterielles Kulturerbe anerkannt.
Warum aber der Martin und woher kommen neben den Umzügen all die weiteren Begleiterscheinungen wie Laternen, Martinsgänse und das Singen von Martinsliedern? Der gesamte Martinsbrauch geht zurück auf den heiligen Martin von Tours, der im 4. Jahrhundert nach Christus lebte und am 11. November 397 bestattet wurde. Ihm wird die Legende von der Mantelteilung zugesprochen und für sein weiteres Leben als Missionar, Klostergründer und Bischof wird er in der katholischen Kirche verehrt.
Damit hat es aber auch sein Ende mit der Eindeutigkeit, denn viele der mit dem Martinsfest verbundenen Bräuche und Gepflogenheiten kamen erst in jüngerer Zeit auf oder hatten nur bedingt etwas mit dem Leben des Martin von Tours zu tun. Zwiespältig sind zum Beispiel die Herleitungen der Martinsgans.
Der Bischof im Gänsestall
Zum einen soll sich Martin vor seiner Wahl zum Bischof in einem Gänsestall versteckt haben, um dadurch der Ernennung zu entgehen. Das Schnattern des Federviehs hat ihn aber verraten und er wurde doch zum Bischof geweiht. In einer anderen Version sollen ihn Gänse bei einer Predigt gestört haben, weswegen sie anschließend als Gänsebraten endeten.
Ganz anderslautende Erklärungen verknüpfen die Martinsgans mit dem traditionellen Abgabetermin des Zehnten. Diese Steuer wurde am Ende der Erntesaison fällig und konnte auch in Naturalien – Gänsen eben – bezahlt werden.
Bis zum heutigen Tag erhalten hat sich der Brauch, Pachtzahlungen am 11. November persönlich zu überbringen. Oft werden die Verträge per Handschlag geschlossen oder verlängert, so dass sich auch im Zeitalter des Online-Bankings der persönliche Kontakt zur Begleichung der Schuld behauptet hat.
Einen ähnlichen Einnahmencharakter wie die Pachtzahlungen hatten auch die Bettelumzüge von Tür zu Tür an St. Martin. Diese als Heischegänge bezeichneten Sammelaktionen nutzten insbesondere arme Leute, um Abgaben aus den Ernteerzeugnissen oder andere Almosen zu erbitten.
Später zogen dann Kinder um die Häuser, um Süßigkeiten zu erbitten – die sie oft nur als Gegengabe erhielten, wenn sie auch brav ihre Martinslieder trällerten. Wieder andere Erklärungen bringen die Gans mit einem Schlemmermahl in Verbindung, das noch vor der vierzigtägigen vorweihnachtlichen Fastenzeit abgehalten wurde.
Der Kiepenkerl – auch so eineregionale Besonderheit
Diese Tradition ist insbesondere in der oströmisch-orthodoxen Kirche bekannt und bot die letzte Gelegenheit, einen duftenden Braten zu genießen, bevor die Fastengebote mit ihrem Fleischverzicht eingehalten werden mussten. Weil auch andere Nahrungsmittel tierischen Ursprungs wie Eier und Fett verboten waren, mussten die Vorräte vor dem Beginn der Fastenzeit noch aufgebraucht werden. Daraus resultierten weitere kulinarische Gepflogenheiten, die sich bis zur Gegenwart erhalten haben. Der rheinische Stuten und der westfälische Kiepenkerl sind zwei bekannte Beispiele aus Nordrhein-Westfalen. Weitere regionale Besonderheiten haben die Martinsbräuche noch mehr aufgefächert, beispielsweise stehen in Weingegenden Martinsbräuche mit der gerade durchgeführten Weinlese in Verbindung. Martinszüge sind auch durch ihre besonderen Lichter gekennzeichnet.
Neue Ausstellung im LVR-Niederrheinmuseum
Unser Gast-Autor Thomas Ohl ist Wissenschaftlicher Referent im LVR-Niederrheinmuseum in Wesel und blättert sich für uns einmal im Monat durch die (regionale) Geschichte.
Im LVR-Niederrheinmuseum wird aktuell emsig umgebaut. Und doch darf man sich auf eine neue Ausstellung freuen: Vom 23. November bis zum 28. April 2024 widmet sich die Sonderausstellung „Kleine Tore, große Sprünge?“ dem Handballsport in Rheinland und Westfalen ab 1917 bis heute. – „Ein Strom, der uns verbindet“ ist noch bis zum 30. November zu sehen.
Vor nicht allzu langer Zeit kamen vorwiegend ausgehöhlte Kürbisse und Rüben zum Einsatz, die tagelang vorher bearbeitet und eigens für den Zug hergestellt wurden. Heute beeindrucken das entzündete Großfeuer und die begleitenden Fackeln, aber insbesondere die zahllosen und kunterbunten Laternen der Lichterprozession die Teilnehmenden und die Zuschauenden gleichermaßen.
„Durch die Straßen auf und nieder, leuchten die Laternen wieder; grüne, gelbe, rote, blaue, lieber Martin, komm und schaue …“