An Rhein und Ruhr. Erforschung jüdischer Friedhöfe - das klingt nach einem eher ruhigen Dasein. Doch der gegenwärtige Krieg sorgt im Steinheim-Institut für Unruhe.

Fast sieht es aus, als sei die Alte Synagoge in Essen in einem Käfig gefangen: Ein Baugerüst steht um das imposante Gebäude – die größte frei stehende Synagoge nördlich der Alpen immerhin. Und das Gerüst wird noch einmal umstellt von einem Bauzaun, der seit kurzem zusätzlich mit Stacheldraht gesichert ist. Zwei Streifenwagen parken um die Ecke: Die Polizei steht wieder rund um Uhr vor dem Kulturzentrum.

Im angebauten, ehemaligen Rabbinerhaus sind die Räume des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte. Das Projekt: Die lange Tradition des Judentums in Deutschland weiter ins Bewusstsein holen und ein europaweit einzigartiges kulturelles Erbe bewahren, erforschen und für die Wissenschaft und die Menschen digital zugänglich machen: die über 2000 jüdischen Friedhöfe im Land.

Denn: Auf deutschem Boden finden sich so viele jüdische Gräber wie in keinem anderen Land. „Das klingt überraschend, lässt sich aber erklären“, sagt Prof. Lucia Raspe, Leiterin des Instituts. „In den anderen europäischen Ländern, in England und Frankreich beispielsweise, gab es Zentralregierungen. Dort wurden Juden dann im 14. Jahrhundert vertrieben.“ Und Begräbnisstätten in vielen Fällen überbaut.

Deutschland hat über 2000 jüdische Friedhöfe

Im heutigen Deutschland hingegen, mit seinem Flickenteppich aus Kleinstaaten, gab es Möglichkeiten für jüdische Menschen, sich niederzulassen, immer wieder der lokalen Repression auszuweichen. „Oft waren es gerade kleinere Herrscher, Ritter und Fürsten, die bei sich jüdische Familien ansiedelten“, so Raspe. Meist besser gebildet und vernetzt war dies Wirtschaftsförderung fürs eigene Land. „Und die Herrscher konnten so ihre Eigenständigkeit betonen“, erklärt Raspe.

Die Folge: Überall in Deutschland liegen, oft versteckt auf dem Land, jüdische Friedhöfe. Juden bestatten ihre Toten traditionell außerhalb der Stadtmauern und andererseits wiesen die Herrscher je nach Stimmungslage eher weniger fruchtbare Äcker oder Waldflächen als Grabstätte an. Vorteil: Jüdische Friedhöfe, prinzipiell für die Ewigkeit errichtet, liefen selten Gefahr, Bauprojekten oder willkürlicher Schändung anheimzufallen. Wer südlich von Essen-Kettwig über den Ruhrsteig wandert, stößt beispielsweise auf gleich zwei jüdische Friedhöfe mitten im Wald.

Nathanja Hüttenmeister und Anna Martin vom Salomon Ludwig Steinheim-Institut auf dem jüdischen Friedhof im Segeroth in Essen bei der Erfassung der Inschriften.
Nathanja Hüttenmeister und Anna Martin vom Salomon Ludwig Steinheim-Institut auf dem jüdischen Friedhof im Segeroth in Essen bei der Erfassung der Inschriften. © Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft e. V. | Alex Muchnik

Das Ziel des Instituts ist natürlich die systematische Erforschung dieses kulturellen Erbes, das mindestens ebenso lange zu Deutschland gehört, wie das Christentum: Vor zwei Jahren feierte unser Land „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“: Im Jahre 321 fand sich eine Steuerliste in Köln: Kaiser Constantin erlaubte den Juden, sich in der Stadtversammlung zu engagieren – ohne an Kulthandlungen teilzunehmen. Mit dem politischen Einfluss verbunden war allerdings auch die Steuerpflicht.

Die Geschichte seitdem – bis zur Shoah – ist, vorsichtig gesagt, vielschichtig. Einzig Worms, gemeinsam mit Speyer und Mainz als so genannte Schum-Städte seit 2021 Weltkulturerbe, kann sich bis 1938 einer ununterbrochenen jüdischen Tradition rühmen. „Es gab durchaus auch gute Zeiten und fruchtbaren Austausch und Integration oder zumindest gut nachbarschaftliche Beziehungen“, weiß Prof. Raspe.

November 2022: Schüsse auf die Tür des Instituts

Die Zeiten des Mit- und Nebeneinanders wechselten mit jenen von Pogromen und Vertreibungen. Die Folge: Jüdische Begräbnisstätten liegen oft fernab großer Bebauung: Nicht nur in Köln, sondern auch in Kleinbardorf, im Grenzbereich von Thüringen und Bayern, wird das Institut nun 4500 jüdische Grabsteine dokumentieren und digital erfassen.

Auch das ein Friedhof, den man nur zufällig fände, führte nicht ein Wanderweg übers Gräberfeld. Doch selbst dort muss diskutiert werden, ob er Fluch oder Segen ist, erzählt Raspe. Sie weiß: Wer jüdische Friedhöfe kartiert und erfasst, dokumentiert oft auch die Schändung und Zerstörung.

Erst mit der 50. Wiederkehr der Reichspogromnacht änderte sich das: „Wir können sehen, dass erst Ende der 80er Jahre begonnen wurde, mit Gedenktafeln an Friedhöfe, Synagogen und jüdisches Leben zu erinnern“, berichtet Raspe.

Nathanja Hüttenmeister und Anna Martin beim Entziffern und Erfassen der Inschriften von Grabsteinen im Steinheim-Institut.  
Nathanja Hüttenmeister und Anna Martin beim Entziffern und Erfassen der Inschriften von Grabsteinen im Steinheim-Institut.   © Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft e. V. | Alex Muchnik

In der Datenbank lassen sich bereits Grabsteine einige Friedhöfe, u.a. jene in Kalkar, Geldern, Schermbeck, Mülheim, Oberhausen und Essen erkunden. 50.000 Inschriften von 256 Friedhöfen sind bereits dokumentiert.

Im derzeitigen Forschungsprojekt der Arbeit geht es vor allem darum zu zeigen, wie sich das Mit-, Neben- und Gegeneinander von Juden und Mehrheitsgesellschaft auch auf Grabsteinen widerspiegelt: Welche Baustile und Elemente wurden wann übernommen? Waren Inschriften in Hebräisch oder Deutsch?

Mit Sorge blickt sie auf die aktuellen Ereignisse: „Der Überfall der Hamas und der Krieg im Nahen Osten hat Auswirkungen für die lokale jüdischen Gemeinden in einer neuen Qualität. Dass hierzulande Häuser markiert werden, wo jüdische Menschen leben und dass jüdische Menschen im Bus Angst haben, sich auf Hebräisch am Smartphone zu melden, hat eine neue Qualität. Wir glaubten, darüber hinaus zu sein: dass es pogromartige Zustände gibt in unserem eigenen Land. Das macht mir echt Sorgen.“

Vor einem Jahr wurden Schüsse auf die Tür des Rabbinerhauses – Eingang zum Steinheim-Institut abgefeuert. „Die Täter sind bis heute nicht gefasst“, sagt Lucia Raspe.