An Rhein und Ruhr. Kurzfristig sind es vor allem Erkältungen, die für mehr Erkrankungen sorgen, so die Barmer. Langfristig nehmen vor allem psychische Leiden zu.
Mehr als 22 Tage, also knapp viereinhalb Wochen, fehlte jeder Arbeitnehmer krankheitsbedingt im Jahr 2022. Damit waren die Beschäftigten in NRW etwa eine Woche länger krank als noch 2021. Der dramatische Zuwachs an Krankheitstagen ist vor allem durch Erkältungskrankheiten ausgelöst worden, so die Barmer. Sie hat für ihren Gesundheitsreport die Daten von 3,7 Millionen Versicherten zwischen 15 und 64 Jahren in ganz Deutschland ausgewertet, knapp eine Million davon arbeiten in Nordrhein-Westfalen.
Im Schnitt fehlten die Arbeitnehmer 2022 in NRW 22,6 Tage im Job – im Jahr zuvor waren es 17,4 Tage gewesen. NRW liegt damit minimal über dem Bundesschnitt. Allein eine knappe Woche (4,6 Krankheitstage im Schnitt aller Arbeitnehmerinnen und -nehmer) gingen auf das Konto der Atemwegserkrankungen – nach 1,6 Krankheitstagen in 2021.
Immunsystem nach Corona im Trainingsrückstand
Fachleute vermuten, dass es im Nach-Corona-Jahr eine Art Nachholeffekt bei den Schnupfen- und Erkältungskrankheiten gab: Die Zahl der sozialen Kontakte stieg wieder deutlich an, genauso die Präsenz am Arbeitsplatz und im öffentlichen Leben, gleichzeitig hatte bei vielen Menschen offenbar das Immunsystem eine Art Trainingsrückstand. Zum Vergleich: Vor der Corona-Pandemie, in den Jahren 2015 bis 2020, lagen die Ausfallzeiten wegen Atemwegserkrankungen gerade mal zwischen 2 und 2,5 Tagen.
Die Atemwegserkrankungen sind damit in 2022 für mehr als ein Fünftel aller Arbeitsunfähigkeiten verantwortlich. Auch derzeit kämpfen bereits wieder viele Menschen mit Husten, Schnupfen und Halsweh und fehlen daher im Job, so dass die Innungskrankenkasse mit einer Krankheitsquote von sieben Prozent in 2023 rechnet – in 2022 lag sie lauf Barmer bei 6,2 Prozent.
Psychische Leiden sind zweithäufigster Ausfallgrund
Die Atemwegserkrankungen werden dicht gefolgt von den psychischen Erkrankungen, die mittlerweile für 18 Prozent aller Ausfallzeiten sorgen, gefolgt von Muskel- und Skeletterkrankungen (die klassischen Rückenschmerzen), die für gut 17 Prozent aller Ausfallzeiten verantwortlich waren. Verletzungen sind für zehn Prozent der Krankheitstage verantwortlich, weitere zehn Prozent verteilen sich auf Tumorerkrankungen, Kreislaufprobleme und Magen-Darm-Leiden.
Neben dem akuten Problem mit den hohen Ausfallzeiten wegen Erkältungskrankheiten ist es vor allem der langsame, aber stetige Zuwachs bei psychischen Erkrankungen, die die Barmer mit besonders großer Sorge beobachtet. „In unserer Schwerpunkt Analyse wird deutlich, dass mehr als ein Drittel der Beschäftigten in NRW unter einer psychischen Erkrankung leiden. Sieben Prozent der Betroffenen sind deswegen arbeitsunfähig“, so Heiner Beckmann, Geschäftsführer der Barmer in NRW. Zahlen, die seit 2014 dramatisch zugenommen haben.
Pflegekräfte sind psychisch besonders belastet
Wer pflegt, hat die besten Chancen, demnächst selbst Pflege zu brauchen. Gesundheitsberufe machen besonders häufig krank – insbesondere bei seelischen Leiden. Das zeigen die Daten des diesjährigen Gesundheitsreports der Barmer. Aufs Land hochgerechnet, fehlt jeder Arbeitnehmer eine knappe Woche wegen seelischer Erkrankungen: 4,4 Krankheitstage. Acht Jahre zuvor waren es erst 3,7 Krankheitstage aufgrund seelischer Leiden – ein Zuwachs um fast ein Fünftel. Und die Zahlen wachsen weiter.
In der Altenpflege indes sind es 8,7 Tagen, Gut sieben Tagen sind es bei den übrigen Pflegekräften, bei Erzieherinnen und Erziehern, Menschen im Rettungsdienst und in der Sozialarbeit. Zum Vergleich: Im Hochbau (1,4) und an den Hochschulen (1,8 Krankheitstage fallen aufgrund seelischer Leiden kaum Ausfallzeiten aus seelischen Gründen an.
„Wir beobachten diese Entwicklungen mit Sorge, und zwar auch mit Blick auf all diejenigen Erwerbstätigen, die diese Arbeitsausfälle abfedern müssen“, sagt Heiner Beckmann, Landesgeschäftsführer der Barmer in Nordrhein-Westfalen. Problematisch sei vor allem, dass psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeiten in der Regel sehr lange dauern: Wer psychsich erkrankt ist, fällt meist deutlich mehr als zwei Monate aus (46,7 Fehltage).
Die Barmer berichtet zudem von irritierenden regionalen Unterschieden: Während in Düsseldorf die Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen minimal auf 4 Arbeitstage zurückgingen, sind sie in Mülheim und Oberhausen dramatisch gestiegen: von 3,9 auf 4,7 (Mülheim) beziehungsweise von 4,5 auf 5,4 Tage (Oberhausen). Essen, Duisburg und der Kreis Mettmann liegen mit einem Zuwachs von 0,5 eher leicht über dem Trend. In den Kreisen Kleve und Wesel ist der Anstieg der Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen nur minimal um 01, auf 4,4 bzw 4,3 Tage gestiegen.
Dabei lauert das große Risiko noch drohend im Hintergrund: Mittlerweile leidet fast jeder dritte Arbeitnehmer unter einer psychischen Erkrankung. Doch nur bei jedem 14. wird der Leidensdruck so groß, dass er oder sie tatsächlich krank geschrieben wird. Überraschend ist dabei die Entwicklung in der Region: Vor allem in Mülheim und Oberhausen nahmen die Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen zu.
Bei der Suche nach den Ursachen tut sich die Barmer deutlich schwerer. Einige Risikofaktoren indes lassen sich ausmachen: So haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die häufiger den Wohnort und den Arbeitsplatz wechseln, wesentlich häufiger psychische Probleme. „Da stehen wir vor dem Henne-Ei-Problem“, so Heiner Beckmann: Machen die häufigen Wechsel psychisch krank oder ist es so, dass Menschen ihren Job häufiger wechseln, wenn der seelische Druck am Arbeitsplatz zu groß ist?
Teilzeitkräfte sind häufiger psychisch krank - aber warum?
Einige Ursachen zum psychischen Leidensdruck sind vergleichsweise naheliegend: Wer einen sicheren, unbefristeten Vollzeitarbeitsplatz hat, wird seltener psychisch krank. Ob es bei den häufiger betroffenen Teilzeitarbeitenden nun ausgerechnet der Beruf ist, der krank macht, ist hingegen nicht so klar. Zunächst: Bei Frauen werden psychische Krankheiten immer noch weit häufiger diagnostiziert als bei Männern (39,9% zu 28,9%), zweitens arbeiten sie häufiger in den eingangs erwähnten Risikoberufen und drittens wählen viele von ihnen womöglich Teilzeittätigkeiten, weil sie auch noch anderweitig in Sachen Pflege, Haushalt oder Kindererziehung gefordert sind.
Weitere Risikofaktoren der Arbeitswelt für psychische Erkrankungen sind vor allem monotone Tätigkeiten, hinzu kommen Arbeitsdruck bei geringer Bezahlung. Ebenfalls machen Schicht- und Nachtarbeit sowie lange Arbeitszeiten die Seele mürbe. Auch ein negatives Arbeitsklima bis hin zu Mobbing, sexuelle Belästigung und Gewalterfahrung trägt zum Zuwachs bei seelischen Erkrankungen bei.
Abiturienten und Menschen mit Doktortitel sind psychisch gesünder
Die geringste Neigung zu psychischen Erkrankungen haben Arbeitnehmer mit Abitur und Doktortitel, besonders häufig sind jene betroffen, die nach der Mittleren Reife eine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Dass akademische Titel vor seelischen Erkrankungen schützt, ist allerdings kaum anzunehmen. Wahrscheinlicher ist, dass die Menschen in Ausbildungsberufen deutlich häufiger dort arbeiten, wo der psychische Druck groß und die Bezahlung geringer ist als in akademischen Berufen.
Ebenfalls sehr auffällig: Die Neigung zur psychischen Erkrankung nimmt mit dem Alter deutlich zu. Von den Berufseinsteigern (15 bis19) hat jeder Vierte eine psychische Diagnose, ab ungefähr 40 ist jeder Dritte betroffen und kurz vor der Rente leiden fast 44 Prozent aller Arbeitnehmer an einer seelischen Erkrankung. „Offenbar ist das dem Umstand geschuldet, dass der Arbeitsdruck und ständige Neuerungen und Stress hier ihren Tribut fordern“, so Heiner Beckmann.