Neukirchen-Vluyn. 38 Jahre waren sie ein Paar, verheiratet aber nur sieben Wochen. Deswegen soll die 67-Jährige kein Geld bekommen. Sie kämpft weiter.
Jutta Jell beißt ins Schinkenbrötchen. Sie ist schon seit zwei Uhr nachts auf den Beinen und hat bis um 10 Uhr morgens noch nicht gefrühstückt. Die Nächte sind kurz für die Neukirchen-Vluynerin, sie trägt Zeitungen aus, um ihren Lebensunterhalt aufzubessern. Ihre eigene Rente ist gering, und eine Witwenrente bekommt sie nicht – weil sie weniger als ein Jahr mit ihrem Mann Günter verheiratet war. So hat es das Landessozialgericht entschieden.
Eigentlich hatte Jutta Jell an diesem Tag gar nicht so recht Lust, tanzen zu gehen. Doch ihre Freundin überzeugte sie, sie in das ehemalige Tanzlokal Kobra zu begleiten. Das Schicksal wollte es so. Denn an jedem Tag im Jahr 1983 traf Jutta Jell Günter. „Er hat mir sofort gefallen“, erinnert sie sich. Ein Bild auf der Konsole im Esszimmer zeigt Günter aus eben dieser Zeit. Ein schlanker Mann mit blonden Haaren, Schnurrbart und rotem Hemd.
Es war für beide die zweite Ehe
Die beiden verliebten sich, nach vier Wochen stellten sie sich gegenseitig den Eltern vor. Acht Jahre nach diesem ersten Treffen zog Jutta Jell mit ihren beiden Kindern aus erster Ehe bei Günther ein, in ein ehemaliges Zechenhaus in Neukirchen-Vluyn. „Wir haben Freud und Leid geteilt“, erzählt Jutta. Ende der 90er-Jahre dann sprachen sie zum ersten Mal übers Heiraten. Beide waren schon mal verheiratet. Sie wollten es noch mal versuchen. Doch das Schicksal warf die Pläne immer wieder durcheinander – Krankheiten und Todesfälle ließen die Hochzeitspläne in den Hintergrund rücken. Bis zum 25. Februar 2019.
Jutta lud ein befreundetes Pärchen zu ihrem Geburtstagsfrühstück ein, man sprach über Dies und Das. „Und dann sagte Günter wörtlich: ‘Jetzt hab ich die Schnauze voll, jetzt wird geheiratet!“ So.
Im Sommer sollte es so weit sein, ein kleiner Stehempfang, nichts Aufregendes. Es ist für beide die zweite Hochzeit.
Auf eine Feier verzichtet
Im Mai der Schock: Günter bekam kaum Luft, Jutta rief einen Krankenwagen. Lungenkrebs. Geheiratet wurde dennoch, im Spätsommer. Am 11. September 2019 gaben sie sich vor Trauzeugen das Ja-Wort im Standesamt in Neukirchen-Vluyn.
Günter sei zu diesem Zeitpunkt von der Immuntherapie geschwächt gewesen, trotzdem: „Es war ein sehr schöner Tag“, sagt Jutta und muss mit den Tränen kämpfen. „Wir hätten uns viel eher kennenlernen müssen“, sagt sie traurig. Auf eine Feier haben sie mit Rücksicht auf Günters Gesundheitszustand verzichtet. „Dazu wäre er nicht in der Lage gewesen“, meint Jutta.
Ein paar Wochen vergingen, Günter klagte über Schmerzen im unteren Bauchbereich. Wieder ins Krankenhaus. Er bekam vorübergehend einen künstlichen Darmausgang. „Ich habe ihn jeden Tag besucht. Mit dem Fahrrad den Moersbach entlang“, sagt Jutta.
Am 30. Oktober sollte er wieder entlassen werden. Doch Günter kam nicht. Stattdessen klingelte das Telefon. Günter ist tot. Rund sieben Wochen nach der Hochzeit musste Jutta ihren Mann zu Grabe tragen.
Sie organisierte, was im Sterbefall eben zu organisieren ist, erfuhr, dass sie die Witwenrente beantragen müsse und informierte sich beim Knappschaftsältesten. Günter war Bergmann auf der Zeche Niederberg in Neukirchen-Vluyn, Hauer, mehr als 25 Jahre unter Tage.
Kritik an starrem Gesetz zur Witwenrente
Thomas Eberl, Sozialrechtsberater des Sozialverbands Deutschland, kritisiert auf Anfrage der NRZ die starre Grenze von einem Jahr. Auch der Sozialverband VdK sieht diese Regelung kritisch. „Es ist die Frage, ob man allein auf die Institution Ehe abstellen muss“, sagt Carsten Ohm vom VdK, „und ob es in unser moderne Familien- und Gesellschaftsbild passt.“ Solche Gerichtsverhandlungen stellten die Hinterbliebenen vor große Herausforderungen. „Da werden Wunden noch einmal aufgerissen“, betont Ohm.
Einen Vorstoß, das Gesetz zu ändern, gibt es von der mitregierenden CDU-Fraktion im NRW-Landtag nicht, auch wenn die Entscheidung des Gerichts aus menschlicher Sicht „natürlich höchst tragisch“ sei, wie Marco Schmitz, sozialpolitische Sprecher der CDU, sagt.
Die Rentenkasse lehnte den Antrag ab mit dem Hinweis, dass der Anspruch nicht bestünde, weil sie weniger als ein Jahr mit Günter verheiratet gewesen war. So steht es in Paragraf 46 des sechsten Sozialgesetzbuchs.
„Ich habe mich gefühlt wie ein Sozialschmarotzer“
Kurzum: Es ging vors Sozialgericht nach Duisburg, das Jutta Jell im Oktober 2021 Recht zusprach und die Rente bewilligte. Die Rentenversicherung ging in Berufung und bekam ihrerseits vor dem Landessozialgericht Recht: keine Witwenrente für Jutta Jell. Die Verhandlung „war grausam“, sagt sie. „Ich habe mich gefühlt wie ein Sozialschmarotzer.“
Jutta Jell will weiterkämpfen. Unterstützt wird sie dabei von der Frauengruppe der Bewegung „Kumpel für Auf“, die auch den Kontakt zu einem neuen Anwalt herstellte. Peter Klusmann hat im Mai Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundessozialgericht in Kassel eingelegt. Er sieht in dem Gesetz eine Ungleichbehandlung. Und: „Das Gesetz ist nicht mehr zeitgemäß“, meint Anwalt Klusmann. Bis das Bundessozialgericht über die Beschwerde entscheidet, können Monate vergehen. Bis dahin bleiben die Nächte für Jutta Jell kurz.