An Rhein und Ruhr. Verkehrsexpertin Ulrike Reutter begrüßt das Deutschlandticket. Sie sieht aber noch viele Ungerechtigkeiten bei Verkehrsfragen.

Bereits über zehn Millionen Menschen nutzen das Deutschlandticket, einen bundesweiten ÖPNV-Fahrschein. Im vergangenen Jahr erhielt die lange Zeit nur theoretisch diskutierte Möglichkeit solch eines Tickets infolge des Ukraine-Kriegs Aufschwung. Als Teil eines Entlastungspakets der Bundesregierung wurde 2022 für drei Monate das Neun-Euro-Ticket aufgesetzt, nun gibt es das 49-Euro-Ticket. Wie gerecht es ist, beleuchtet Prof. Ulrike Reutter von der Bergischen Universität Wuppertal im NRZ-Gespräch.

Seit dem 1. Mai können Busse und Bahnen überall im Land, egal ob nun am Niederrhein, an der Ostseeküste oder in Franken, mit einem Ticket und einem Preis von 49 Euro im Monat genutzt werden. Wie gerecht und wie revolutionär ist das Deutschlandticket? Rettet es auch unser Klima?

Reutter: Grundsätzlich ist das 49-Euro-Ticket ein Angebot, das zu einem gerechteren Mobilitätsverhalten führen kann, da man ohne große Zugangshürden in ganz Deutschland im Nahverkehr damit fahren kann. Im Detail kann man immer alles noch besser machen, was die Politik jetzt auch tut. Aber es ist nun der erste große Schritt. Die neue Bequemlichkeit ist für die Nutzerinnen und Nutzer ein Riesenvorteil zur Situation zuvor.

Bei weitem nicht überall in NRW gibt es ein dichtes Bus- und Bahnnetz, das sich mit dem Deutschlandticket nutzen lässt. Ich denke jetzt an Bereiche am unteren Niederrhein, etwa die Kreise Kleve oder Wesel.

Ich sehe die Ungerechtigkeit gar nicht so sehr auf dieser Ebene, dass jetzt jemand, der am Niederrhein wohnt, vom Deutschlandticket nicht so profitiert wie jemand, der in einem Ballungsraum wohnt. Menschen am Niederrhein profitieren auch generell nicht von der guten Verkehrsinfrastruktur etwa im Ruhrgebiet. Gleichwohl finde ich es wichtig, dass auch in ländlicheren Regionen das ÖPNV-Angebot ausgebaut wird. Das Argument ‚hätten wir doch erst das ÖPNV-Angebot verbessert und dann ein preislich attraktives Ticket aufgesetzt‘ hätte zu weiterem Stillstand geführt. Jetzt erleben wir es umgekehrt und die Politik wird unter Zugzwang gesetzt, auch die Angebote auszubauen. Denn Lücken im Angebot werden noch deutlicher zu Tage treten. Der Druck, den ÖPNV durch eine hohe Nachfrage des Tickets stärken zu müssen, könnte den Investitionsstau auflösen.

Sie sprechen von einem Gerechtigkeitsgewinn, wie gerecht ist denn insgesamt der Verkehr, oder eher gesagt das Verkehrsangebot, im Land?

Bevor man sich mit Fragen der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem 49-Euro-Ticket beschäftigt, sollte man viel grundsätzlicher auf den Verkehr und die sich stellenden Herausforderungen schauen. Hier spielen im Groben drei Strategien eine Rolle. Verkehr vermeiden, Verkehr verlagern und Verkehr verbessern. Der Weg, der erst gar nicht zustande kommt, ist zunächst der beste. Das kann zum Beispiel über eine gute Siedlungsstruktur der kurzen Wege gelingen oder auch durch weiteren Ausbau der Möglichkeiten für das Homeoffice. So könnte man eine ganze Reihe von Wegen vermeiden oder auch einfach kürzer machen. ‘Verlagern’ meint, vom Individualverkehr mit dem Auto auf die Verkehrsmittel des Umweltverbundes (ÖPNV, Fuß und Rad) umzusteigen. Und „verbessern“ bedeutet etwa, durch zum Beispiel Tempolimits und energieeffizientere Fahrzeuge den Autoverkehr klimafreundlicher zu machen.

Wo hat da die Gerechtigkeit ihren Platz? Und wie würden Sie Gerechtigkeit im Bereich der Mobilität überhaupt eingrenzen, definieren?

In jüngerer Zeit ist das Wort Verkehrsgerechtigkeit mit in die Diskussion reingekommen, womit auch soziale Aspekte berücksichtigt werden. Darunter versteht man zum Beispiel, dass wir heute eine klare Ungleichverteilung von Nutzen und Lasten der Verkehrssysteme haben. Menschen mit geringem Einkommen wohnen dort, wo die Mieten billig sind. Das sind häufig Hauptverkehrsstraßen. Dabei leiden sie stärker als Menschen mit hohem Einkommen, die etwa an den Stadträndern wohnen, unter den Luftschadstoffen, unter den Lärmemissionen, unter der Verkehrsunsicherheit. Oft sind auch Kinder und Alte stärker betroffen von Luftschadstoffen als Menschen im Erwerbsalter, einfach, weil ihre Körper anfälliger für die Schäden der Abgase sind. Ist das gerecht?

Dann haben wir Ungleichverteilung und Ungerechtigkeiten, was die Teilhabechancen angeht. Unser Verkehrssystem ist vor allem auf den Autoverkehr und die Erwerbstätigen-Mobilität ausgelegt. Also man fährt morgens zur Arbeit, ist dort den ganzen Tag, fährt abends wieder zurück und kombiniert das vielleicht noch mit dem Einkaufen oder einer Freizeitaktivität. Aber all jene, die etwa wegen Kindererziehung, Betreuungsaufgaben oder Hausarbeit viele Ziele am Tag erreichen und miteinander kombinieren müssen, haben es oft schwer, wenn sie dafür den ÖPNV nutzen – auch dafür muss das ÖPNV-Angebot verbessert werden.

Ferner gibt es eine globale Ungerechtigkeit, was den Verkehr angeht. Unsere Mobilität können wir uns nur deshalb leisten, weil Bodenschätze in anderen Regionen der Welt, zum Beispiel im globalen Süden abgebaut werden, etwa seltene Erden oder Mineralöl. Das geschieht häufig unter schlimmen Sozial- und Umweltbedingungen. Und dann gibt es noch eine zeitliche Ungerechtigkeit. Unser Verkehr und unsere Mobilität verlagern durch die CO2-Erzeugung Umweltfolgen, aber auch soziale Folgen auf nachfolgende Generationen.

Prof. Dr.-Ing. Ulrike Reutter lehrt an der Bergischen Universität Wuppertal.
Prof. Dr.-Ing. Ulrike Reutter lehrt an der Bergischen Universität Wuppertal. © Bergische Universität Wuppertal | Michael Kaufmann

Wie lässt sich denn, über das Deutschlandticket hinaus, mehr Gerechtigkeit im Verkehrswesen herstellen?

Eine schon lang erhobene Forderung ist, die Entfernungspauschale abzuschaffen. Sie begünstigt und subventioniert ganz klar mittlere und höhere Einkommen. Es sind gerade Menschen aus diesen Einkommensschichten, die auch weite Wege zur Arbeit zurücklegen. Eine Untersuchung des Umweltbundesamt ergab, dass uns Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Pauschale jährlich sechs Milliarden Euro kostet. Nach einer Studie der TU Hamburg Harburg würde zum Beispiel ein bundeseinheitliches Sozialticket ca. 1,4 Milliarden Euro kosten, wäre also durch die Steuereinsparung finanzierbar.

Die zusammenhängenden Themen Verkehrswende und Klimaschutz bieten einiges an Konfliktpotenzial. Wer in Deutschland vonseiten der Politik unpopuläre Entscheidungen zum (vermeintlichen) Nachteil von Autofahrerinnen und -fahrern fällt, sieht sich schnell auch harscher Kritik ausgesetzt.

Wir brauchen dringend „Push“- und „Pull“-Maßnahmen, die auch nicht immer angenehm für alle sind. Zu den Pull-Maßnahmen (auf Deutsch, Anzieh-Maßnahmen, die Red.) gehört auch das 49-Euro-Ticket. Generell geht es dabei darum, das ÖPNV-Angebot zu verbessern, etwa durch bessere Taktung, längere Betriebszeiten, höheren Fahrkomfort. Die Menschen sollen also in Busse und Bahnen ‚gezogen‘ werden.
Ohne Push-Maßnahmen verpuffen sie aber. Da geht es zum Beispiel um das Thema Tempolimit, aber auch eine Einschränkung des Autoverkehrs. Gemeint ist eine andere Straßenraumaufteilung zugunsten des Fuß- und Radverkehrs und des öffentlichen Personennahverkehrs. Es muss für die Nutzerinnen und Nutzer einfacher, bequemer und auch billiger sein, den ÖPNV zu nutzen, mit dem Rad zu fahren oder zu Fuß zu gehen, als in das Auto zu steigen. Das bietet eine Chance, das Verhalten der Menschen tatsächlich zu ändern, wenn mehr als nur Verbote und Restriktionen gesehen werden. Die gesteigerte Lebensqualität in den Städten sollte in jedem Fall als Gewinn empfunden werden.