Duisburg-Ruhrort. Der Hafenstadtteil soll als weltweit erstes Quartier komplett umweltneutral werden. Was Initiator Dirk Gratzel antreibt und warum es Chancen hat.

Du, Ruhrort, Stadtteil von Duisburg, bist keinesfalls der Unbedeutendste unter den Quartieren an Rhein und Ruhr. Denn du sollst hervorgehen als erster umweltneutraler Stadtteil der Welt und der Menschheit den Weg weisen in eine nachhaltige Zukunft.

Ja, man muss schon gewaltig in die Harfe greifen, um zu glauben, dass das weitgehend zubetonierte und industriell durchwirkte Örtchen mit seinen 5700 Einwohnern umweltneutral werden kann.

Ruhrort ist für drei Dinge bekannt: den größten Binnenhafen Europas, für Haniel – dazu später – und für Horst Schimanski. Der hier das Licht der Fernsehkameras erblickte und gleich „Scheiße“ schrie. Weil damals Ruhrort so aussah, als ob es die Zukunft hinter sich hätte. Aber das Beste kommt noch. Das ist die Mission von Dirk Gratzel, der den alten Sinatra-Gassenhauer umtexten will, weil er glaubt: Wenn man es in Ruhrort schaffen kann, dann kann man überall schaffen: die Umweltneutralität. Auch in New York, Rio, Tokio. „Urbanzero“ heißt das Projekt.

Duisburg-Ruhrort mit Ölinsel, Kohleninsel und Schrottinsel: die Namen deuten schon an, dass Umweltbewusstsein und Klimaneutralität hier historisch nicht so verankert sind wie Binnenschiffe und Logistik auf Straße und Schiene. Aber die Zukunft ist ja bekanntlich offen. . ,
Duisburg-Ruhrort mit Ölinsel, Kohleninsel und Schrottinsel: die Namen deuten schon an, dass Umweltbewusstsein und Klimaneutralität hier historisch nicht so verankert sind wie Binnenschiffe und Logistik auf Straße und Schiene. Aber die Zukunft ist ja bekanntlich offen. . , © www.blossey.eu / FUNKE Foto Services | Hans Blossey

Dirk Gratzel, das muss man wissen, hat es vom Zeitungsausträger in Essen-Borbeck zum Top-Manager gebracht, ist das Gegenteil eines Öko-Spinners. Mit IT, KI und Beratung hat er gutes Geld verdient und doch riesige Schulden angehäuft: bei Mutter Erde. Tonnenweise CO2, Abfälle, Mikroplastik, Schadstoffe. Was so ein Leben in der ersten Welt mit Villa, Reisen, Essen, Kleidung so mit sich bringt.

Vor fünf Jahren beschloss der Vater von fünf Kindern, dass er am Lebensende den Globus schuldenfrei verlassen will – ohne Belastung der Umwelt. Also ließ er als erster Mensch der Welt seine Ökobilanz erstellen. Von der TU Berlin. Darüber hat er ein umweltneutrales und ziemlich witziges Buch geschrieben - vom Sockenzählen bis zum Wald kaufen (Dirk Gratzel, Projekt GreenZero, 256 Seiten, 18 Euro).
Dafür hat er seine Aktivitäten und sein Hab und Gut gezählt von den Autos über die Socken bis zur Zahnbürste. Hat Ernährung, Mobilität und Konsum verändert. Das verbessert seine Bilanz um 75 Prozent. Bei Marl hat er eine Industriebrache gekauft, auf der Wald wächst, um seine Klimaschuld auszugleichen.

Aber was nützt es dem Einzelnen, wenn seine Ökobilanz gesundet, aber der Planet weiter kränkelt? Nicht jeder hat die Mittel, seine Lebensökobilanz auszugleichen. Also fasste er den Plan, Ruhrort zu retten – um zu zeigen, wie es möglich ist. Weil das schlecht ohne Ruhrorter geht, hat Gratzel das getan, was er gut kann: ein Netzwerk geschaffen. Mit der Stadt Duisburg, mit Duisport, mit Haniel, mit der Wohnungsbaugesellschaft Gebag, Mit allen, die ihm zuhören. „Multiplikatorentreffen“ nennt sich so etwas.

So arg viel hat Ruhrort nicht zu verlieren

Sie wollen mitziehen. Alle. Weil, ganz ehrlich, so arg viel hat Ruhrort nicht zu verlieren. Einst eines der reichsten Städtchen am Rhein, steht da eine kleine Innenstadt, mit Leerstand in den Läden, mit Altbauten, in denen Menschen wohnen, von denen etliche in finanziell prekären Verhältnissen leben. Ein vom Strukturwandel geschlagener Ruhrgebietsvorort halt. „Wenn morgen jemand sagen würde, wir machen 2032 Olympische Spiele im Ruhrgebiet, würden wir das ja auch hinbekommen. Warum also nicht bis 2030 einen Stadtteil umweltneutral machen?“, fragt Gratzel. Er glaubt: Ein Volk, das mit so viel Hingabe wie Vergeblichkeit seinen Müll sortiert, muss dafür zu gewinnen sein, sein Leben nachhaltig zu sortieren.

Doch Ruhrort kann nicht alles das, was dort angerichtet wird, in den Grenzen des Stadtteils ausgleichen. „Wir werden Ausgleichsflächen außerhalb brauchen“, weiß Gratzel. Immerhin: Duisport kann Brachflächen beisteuern, wo aus Lärmemissionsgründen keine Container gestapelt werden dürfen. Und die Logistiker wollen dafür sorgen, dass Binnenschiffe mit Landstrom versorgt werden, damit der Diesel nicht läuft, wenn es in der Kajüte warm und hell sein soll, so Alexander Garbar, zuständig für die Unternehmensentwicklung bei Duisport.

Thomas Schmidt Geschäftsführer beim Milliarden-Konzern Haniel, Dirk Gratzel und Peter Weidig, Leier der Holding-Dienstleistungen, auf dem Haniel Campus in Duisburg.Ruhrort. Auch der wird nachhaltig – und für alle geöffnet.
Thomas Schmidt Geschäftsführer beim Milliarden-Konzern Haniel, Dirk Gratzel und Peter Weidig, Leier der Holding-Dienstleistungen, auf dem Haniel Campus in Duisburg.Ruhrort. Auch der wird nachhaltig – und für alle geöffnet. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Auch nebenan, bei Haniel, hat man Gratzel aufmerksam zugehört: Presslufthämmer bilden die Geräuschkulisse für den sonst eher idyllischen Haniel-Campus in Ruhrort, so ein wenig der Vatikan des kleinen Stadtteils: Machtzentrum und Ruhepol in einem. Schließlich ist hier immer noch die Holding des Drei-Milliarden-Euro-Mischkonzerns Haniel zu Hause, der Ruhrort groß gemacht hat. Heute spricht Thomas Schmidt, Geschäftsführer des Familienunternehmens, gern von der „Enkelfähigkeit“ Haniels – und meint damit nicht (nur) die nach Hunderten zählende Nachkommenschaft der einstigen Logistiker, Stahlwerker und Kohlebarone, die heute eher in Handel und Innovation investieren.

Das Vermögen der Haniels soll nur noch in Firmen investiert sein, deren Unternehmenszweck und Gebaren nachhaltig ist – enkelfähig halt. Und renditestark zudem: neun Prozent sollen es schon sein. In Ruhrort, so Peter Weidig, zuständig für die Holding-Services, wird der Campus dazu passend umgebaut – Plakate künden schon jetzt vom „Zero-Emission-Plan“.

Haniel baut seinen Campus um – und öffnet ihn

Passt ziemlich perfekt zu Gratzels Projekt. Und so unterstützt Haniel das Urbanzero-Quartierbüro, das die Ruhrorter beim Weg zum umweltneutralen Stadtteil begleiten wird, will eine App anbieten, genauso wie Beratung. Die Gebäude des Haniel-Campus bekommen, wo immer es der Denkmalschutz erlaubt, Photovoltaik aufs Dach, das Blockheizkraftwerk soll bald Biomethan und perspektivisch grünen Wasserstoff schlucken und eine Zisterne soll dank Wärmetauscher im Winter Eis einlagern, mit dem im Sommer die Klimaanlagen für kühle Luft sorgen. So grün sollen die Räume sein, in denen dann Start-ups weitere Ideen für die nachhaltige Welt ausbrüten können. Haniel hat als Holding „nur“ noch 140 Leute auf dem Campus, die Uni Duisburg-Essen und eine Unternehmensberatung sind hier vertreten

Die Pläne von Haniel, Duisport und Urbanzero sind ehrgeizig: Natürlich wollen sie Wasserstofftankstellen einrichten für die Lkw, die eher mehr um den Ort donnern werden, wenn sich Lieferketten, ökologisch gewünscht, von der Straße auf Wasser und Schiene verlagern. „Und wenn ein 40-Tonner bei Ihnen vor der Tür vorbeifährt, ist es vom Geräusch her egal, ob der mit Batterie, Wasserstoff oder Diesel fährt“, sagt Garbar. Aber er weiß auch: „Nachhaltigkeit bedeutet einen Dreikampf: Wir müssen Ökonomie, Soziologie und Ökologie zusammendenken.“ Und in allen drei Disziplinen: bilanzieren, reduzieren und kompensieren. Das macht das Projektteam von UrbanZero.

Und? Gibt es demnächst beim Kaufland am Verteilerkreis nur regionale und vegane Speisen? Gratzel grinst. „Sicher nicht. Wir müssen die Bevölkerung mitnehmen.“ Deswegen wird es ein Projektbüro geben, wo Ansprechpartner sind, die Menschen durch den Förderdschungel führen. Seien es Hausbesitzer – die Gebag hält knapp acht Prozent des Bestandes – oder Menschen, die wissen wollen, ob sie ihren alten Diesel abschaffen sollen, ob es Ladesäulen gibt oder ob sie vielleicht doch die Straßenbahn nutzen sollten, die mit Lissabon-Flair durch den Ortskern kurvt.

Wer Gentrifizierung fürchtet, glaubt an den Umbau

Gratzel bringt Erfahrung und Expertise mit, wie man Umweltgerechtigkeit von unten herstellt, hat mit Oberhausens Ex-OB Bernd Drescher und dessen Firma „Innovation City“ Bottrop auf Vordermann gebracht: Immerhin ein Drittel weniger CO2 wird dort freigesetzt, weil sie darauf bauten, dass Klima- und Umweltschutz nicht (nur) geschehen, weil Regierungen was vorschreiben, sondern weil Leute die Sache in die Hand nehmen. Weil sie es können, es wollen, und weil mindestens ein Euro rausspringt. Dann ist sowas in Bottrop möglich. Und damit wohl auch in Ruhrort.

„Die Menschen werden merken, dass sie durch den Umbau mehr gewinnen als verlieren: Begrünte Fassaden, verkehrsberuhigte Spielstraßen, Blühwiesen, gesünderes Leben dank besserer Ernährung“, sagt Gratzel über das Urbanzero-Projekt. Die Ruhrorter scheinen tatsächlich an Gratzels Visionen zu glauben: Seine Initiative musste versichern, dass der Wandel des Ortsteils nicht zu höheren Miet- und Immobilienpreise führt. Wäre zu bitter, wenn Ruhrort zum Vorbild würde, aber die Ruhrorter aus dem neuen Paradies vertrieben werden.

Und wo sehen Sie Projekte auf dem Weg zu mehr Klimaschutz?

Der 7. Solidaritätspreis von Freddy Fischer Stiftung und der NRZ heißt: „Wir für das Klima – Solidarität mit dem Planeten“. Im Fokus stehen Personen, Initiativen und junge Unternehmen, die sich mit guten (Geschäfts-)Ideen als Vorbilder für den Kampf gegen die Klimakrise, für Umweltschutz oder die Anpassung an Veränderungen einsetzen. Der Preis ist dotiert mit 10.000 Euro. Reinhard Wiesemann, Jury-Mitglied und Sozialunternehmer, stiftet einen Sonderpreis von 2500 Euro. Wir freuen uns auf Vorschläge.

Schreiben Sie bitte bis Mitte Februar an: NRZ, Seite Drei, Stichwort: Solidaritätspreis, Jakob-Funke-Platz 1, 45127 Essen. Oder schicken Sie eine Mail an seitedrei@nrz.de, Betreff: Solidaritätspreis. Reichen Sie möglichst Berichte, Videos und Infos zu Ihrem Vorschlag ein.