An Rhein und Ruhr. Immer häufiger wird bei Kindern eine „motorische Entwicklungsstörung“ diagnostiziert – Was die Corona-Pandemie und die Medien damit zu tun haben.

Einen Purzelbaum schlagen, einen Ball fangen oder sich die Schuhe binden – was für die meisten Kinder selbstverständlich ist, wird für immer mehr von ihnen zur Herausforderung. Zwischen 2011 und 2021 stieg die Zahl der Sechs- bis 18-Jährigen mit „motorischer Entwicklungsstörung“ deutlich an: Um rund 40 Prozent bei den Jungen und etwa 50 bei den Mädchen. Das geht aus Daten der KKH Kaufmännische Krankenkasse hervor.

Damit sind insgesamt 1,8 Prozent der Mädchen und 4,2 Prozent der Jungen betroffen. Defizite gibt es vor allem in der Grob- und Feinmotorik. „Da wäre zum Beispiel das Binden der Schleife, was immer mehr Kindern schwerfällt“, erklärt Andreas Bartsch, Präsident des Nordrhein-Westfälischen Lehrerverbands (NRWL). Große Probleme gebe es aber auch beim Handschreiben.

Die Folgen des Distanzunterrichts

Die Hintergründe sind vielfältig. Experten sehen in der Corona-Pandemie einen zentralen Faktor, der die negativen Entwicklungen noch einmal verstärkt haben soll. Über mehrere Monate stand für die meisten Schüler „Homeschooling“ auf dem Programm. Der Unterricht fand am Bildschirm statt, ebenso wie die Hausaufgaben. Von Hand geschrieben wurde in dieser Zeit nur selten.

„Das macht sich bei den Schülern bis heute deutlich bemerkbar“, ist Bartsch überzeugt. In einer Umfrage des Schreibmotorik Instituts und des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) gaben sieben von zehn Lehrkräften an, nach dem Distanzunterricht deutlich größere Probleme bei Schreibstruktur, Leserlichkeit und Schreibtempo beobachtet zu haben.

Zu wenig Bewegung

Ein weiterer Grund für die negative Entwicklung der Motorik bei Kindern und Jugendlichen ist der vermehrte Bewegungsmangel. Das fängt schon beim Schulweg an. „Heutzutage werden immer mehr Kinder täglich von ihren Eltern gefahren“, weiß Bartsch. Und auch nach der Schule wird sich wenig bewegt, lieber wird Zeit am Fernseher und der Konsole verbracht. Mindestens 60 Minuten Bewegung pro Tag empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation WHO. Diesen Wert erreichen laut Untersuchungen der „Active Healthy Kids Global Alliance“ nur rund ein Drittel der Kinder in Deutschland.

Auch hier hat die Pandemie die Entwicklung verstärkt, sagen Experten. Die Mitgliedschaft in Sportvereinen ist zwar auf einem hohen Niveau, während der Lockdowns war aber besonders der Mannschaftssport stark eingeschränkt. Das Statistische Bundesamt schreibt von 7,3 Millionen Kindern und Jugendlichen, die zeitweise auf das gemeinsame Training verzichten mussten.

Zusätzlich sei der Alltag in vielen Familien schnelllebiger geworden. „Kinder haben weniger Raum und eigenbestimmte Zeit, um sich frei zu bewegen und auszuprobieren“, schildert Nuria Modersitzki die Beobachtungen des Kitaverbunds „Windrose“ aus Mettmann. Zeitdruck führe dazu, dass Kindern zu viel geholfen wird. Das verursache Unterstützungsbedarf bei alltäglichen Aufgaben, wie dem selbstständigen An- und Ausziehen.

Mit gutem Beispiel vorangehen

NRWL-Präsident Bartsch sieht daher auch die Schulen in der Verantwortung. Sinnvoll sei die Erweiterung des Sportunterrichts um eine weitere Stunde pro Woche. „Der Musik- und Kunstunterricht ist aber auch nicht zu unterschätzen.“ Hier werde die Koordinationsfähigkeit und die Feinmotorik gefördert.

Dafür fehlt vielen Schulen allerdings das Personal. Auch viele Kitas sind aus diesem Grund nicht in der Lage, individuell an den Schwächen der Kinder zu arbeiten, sagt VBE-Pressesprecherin Anne Roewer. Dennoch bieten sie Beschäftigungsmöglichkeiten, die sich positiv auf die motorische Entwicklung auswirken können. Lina Strafer vom Essener Kita Zweckverband empfiehlt unter anderem das Spielen mit Steckmaterialien oder Spielschaum, um die Feinmotorik zu trainieren. Für die Stärkung der Grobmotorik eignen sich Sporthallen und Spielplätze.

Die Rolle der Eltern

Doch vor allem die Eltern tragen eine große Verantwortung. Sie können ihre Kinder motivieren und ihr Interesse am Sport wecken. Auch können sie sie bei alltäglichen Aufgaben miteinbeziehen, rät Vijitha Sanjivkumar vom Kompetenzteam Medizin bei der KKH. „Beispielsweise können Kinder den Tisch decken, die Spülmaschine ausräumen oder den Koffer packen. Hierbei ist es wichtig, dass jeder Erfolg wertgeschätzt wird“, sagt Sanjivkumar. „Eltern sollten ihren Kindern ein gutes Beispiel sein. Hin und wieder ein Spaziergang mit der Familie wäre doch schonmal ein Anfang“, meint Bartsch.