Duisburg. Tanja Tlatlik ist die neue Leiterin des Festivals doxs! Uns verrät sie, welche Dokus sie als Kind geschaut hat und was einen guten Film ausmacht.
Es sind große Fußstapfen, in die Tanja Tlatlik getreten ist. Ihre Vorgängerin Gudrun Sommer hat das Dokumentarfilm-Festival doxs! für Kinder und Jugendliche 20 Jahre lang geleitet, hat ihm zu internationalem Ruhm verholfen. Nun hat die 33-Jährige übernommen, doch so ganz neu ist ihr die Arbeit nicht. Immerhin ist sie schon seit 2015 bei doxs! tätig und Dokumentarfilme hat sie auch schon so einige gesehen…
Frau Tlatlik, haben Sie als Kind gern Dokus geschaut?
Wissensmagazine wie „Die Sendung mit der Maus“ oder „Käpt’n Blaubär“ kannte ich natürlich, aber ich habe durchaus auch Cartoons geguckt. Also nicht ganz so pädagogisch wertvolle Sachen (lacht), was aber völlig in Ordnung ist. Ich kann mich aber daran erinnern, dass ich schon recht früh mit meinen Eltern ins Kino gegangen bin. Nur haben wir uns dann keine Dokumentarfilme angesehen, die gab’s damals ja auch kaum. Selbst heute noch schaffen es solche Filme nur selten ins Kino.
Woran liegt das?
Die großen Kinos setzen immer eher auf die bekannten Player, wie beispielsweise Disney. Als Argument wird dabei angeführt, dass man mit Dokumentarfilmen nicht genug Geld verdient, weil es nicht so viele Leute interessiert. Ich würde aber dagegenhalten, dass das Angebot immer auch die Nachfrage bestimmt. Ein Festival kann zum Glück auch mal die etwas anderen Filme zeigen.
Was bleibt unter Ihrer Festivalleitung gleich, was ist anders?
Die Mission, künstlerische Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche zu zeigen, bleibt natürlich gleich. Aber ein paar Änderungen gibt es schon. Zum Beispiel haben wir überlegt, dass es nach 20 Jahren Zeit für ein neues Erscheinungsbild ist. Mit unserer neuen Website und dem neuen Logo möchten wir doxs! als Marke sichtbarer machen. Außerdem arbeiten wir immer viel mit Schulen zusammen, aber möchten uns nun auch einer breiteren Öffentlichkeit öffnen. Deshalb arbeiten wir mit dem Stapeltor, dem soziokulturellen Zentrum Duisburgs zusammen und bieten am Wochenende vier Programme an. Der Samstag richtet sich an Familien mit Kindern ab vier Jahren, der Sonntag ist eher für Jugendliche und junge Erwachsene. Und was ebenfalls anders ist: Nach zwei Corona-Jahren können wir endlich wieder ein vollständiges Programm mit zwei Wettbewerben zeigen und alle internationalen Filmgäste einladen.
Hat die Pandemie das Festival denn nachhaltig verändert?
Die Anforderungen an Festivals haben sich grundlegend verändert und wir mussten uns fragen, ob wir weiter eine Hybrid- oder wieder nur eine Präsenzveranstaltung sein wollen. Ich habe mich für Ersteres entschieden, weil wir so mehr Schulen erreichen können. Manche haben einfach nicht die Möglichkeit, hierherzukommen und sind so flexibler. Außerdem hat das Kino ja auch seine Kapazitätsgrenzen. Deshalb gibt es alle Filme aus dem Programm nun zusätzlich im Stream, dazu kommen ein erweitertes Begleitmaterial und Videokonferenzen. Aber wir merken an den vielen Anmeldungen, dass die Schulen den Kindern und Jugendlichen auch endlich wieder etwas außerhalb des Klassenraums anbieten möchten. Insgesamt glaube ich, dass sich der Trend des Hybrid-Festivals durchsetzen wird.
Wie kann ein Dokumentarfilm bereits so junge Kinder begeistern?
Es gibt viele schöne Formen, die sich dafür eignen. Der Film „Natur pur“ beispielsweise ist im Rahmen eines Kindergartenprojekts entstanden. Die Kinder sind raus in die Natur gegangen und haben dort ganz viele Sachen beobachtet. Was befindet sich in der Erde? Wie sieht ein Blatt aus? Welche Geräusche höre ich? Danach sind sie wieder reingegangen und haben zu dem, was sie draußen gesehen haben, etwas gebastelt. Die Ergebnisse sind im Film dann auch als Papieranimationen zu sehen. Bei solchen Dokumentarfilmen geht es nicht darum, dass Kindern etwas von Erwachsenen erklärt wird, sondern dass sie sich über Gleichaltrige selbst ein Thema spielerisch erschließen können. Dabei sollen sie natürlich nicht überfordert, aber durchaus gefordert werden.
Aber schauen Kinder nicht sowieso schon viel zu viel auf Bildschirme?
Das Erlebnis im Kino ist etwas ganz anderes, dabei geht es viel mehr um die sinnliche Erfahrung. Ein Film auf einer Leinwand sieht anders aus, hört sich anders an. Außerdem schaut man ihn gemeinsam mit der Klasse oder einer Gruppe und kann anschließend auch darüber reden. Das ist uns besonders wichtig, deshalb nehmen wir uns immer viel Zeit für den Dialog. Nach jedem Film gibt es die Möglichkeit, mit den Filmemacherinnen und Filmemachern zu sprechen. Die Kinder und Jugendlichen können ihnen direkt sagen, was sie gut oder was sie nicht so gut fanden. Sie lernen also, eine Meinung zu bilden und diese auch in Worte zu fassen.
Welche Themen interessieren Kinder und Jugendliche heutzutage besonders?
Natürlich kann ich nicht für alle Kinder und Jugendlichen sprechen. Aber an den Diskussionen sehe ich, dass es ein unglaubliches Interesse an politischen Themen gibt. Das liegt daran, dass der Jugend viel Verantwortung zugesprochen wird, gerade mit Blick aufs Klima, und sie dann natürlich auch mitreden möchte. Dann kommen auch immer wieder Generationsthemen auf, wie beispielsweise in dem Film „Lieber Papa, deine Tochter“, in der Tochter und Vater über Identitätspolitik, Gendern und rassistische Sprache diskutieren. Aber auch das Verorten – in Räumen, zwischen Traditionen und Familienbeziehungen – ist ein großes Thema. Das Finden der eigenen Position spiegelt sich übrigens in dem Motto „Im Werden begriffen“ wider, unter dem doxs! und die Duisburger Filmwoche erstmals als Partnerfestivals gemeinsam stehen.
Hat Sie ein Film in diesem Jahr besonders berührt?
Als Festivalleiterin habe ich glücklicherweise die „einfachere“ Aufgabe, keinen Gewinnerfilm auszusuchen, sondern ein Gesamtbild herzustellen. Aber ein Film, der mich sehr berührt hat und über den auch die Jugendjury interessiert diskutiert hat, ist „Born in Damascus“. Darin spricht die Protagonistin nach zehn Jahren wieder mit ihrer Cousine. Die beiden sind aus Syrien geflüchtet, die eine später als die andere, und bei dem Gespräch zeigt sich, dass die Cousine keine Erinnerungen mehr an die Vorkriegszeit hat. Der Film zeigt dabei eindrucksvoll, was eine Dokumentation kann: Der Krieg wird zwar thematisiert, aber nicht auf klassische Weise, stattdessen wird durch Archivbilder ein positives Bild der Vergangenheit rekonstruiert. Das ist übrigens oft eine Reaktion der Kinder und Jugendlichen bei solchen Filmen: „Ich wusste gar nicht, dass so etwas auch ein Dokumentarfilm ist.“
Was also macht einen guten Dokumentarfilm aus?
Es gibt oft die Annahme, dass Dokumentarfilme ein Thema von vorne bis hinten erklären und journalistisch aufarbeiten müssen. Das sieht man gerade auch an den Angeboten auf den Streamingportalen, die meistens so gemacht sind. Bei künstlerischen Dokumentarfilmen aber muss nicht alles erzählt werden – weil es vielleicht nur eine persönliche Geschichte oder nur ein subjektiver Blick auf ein Thema ist. Und genau das ist das Tolle an einem Festival wie doxs!: Wir zeigen die große Bandbreite der Dokumentarfilme.
>>> Über Tanja Tlatlik
Tanja Tlatlik hat Film und audiovisuelle Medien an der Ruhr-Universität Bochum sowie an den Universitäten in Montreal, Paris und Amsterdam studiert. Seit 2015 ist sie bei doxs! tätig – zunächst freiberuflich, seit 2019 als Organisationsleiterin und seit 2022 als Festivalleiterin.
Die 21. Ausgabe von doxs! findet mit der Duisburger Filmwoche vom 7. bis 13. November statt. Kino und Festivalzentrum ist das Filmforum am Dellplatz. Zu jeder Vorstellung gibt es ein Filmgespräch mit Regiegästen.
Insgesamt 21 aktuelle Dokumentarfilme aus zwölf Ländern erkunden die Lebenswirklichkeiten und Gefühlswelten junger Menschen. Die Protagonistinnen und Protagonisten der Filme sind auf der Suche nach ihrem Platz, teilen ihre Ängste sowie Wünsche und gehen mutig voran.
Der Kinobesuch sowie das Online-Angebot ist für Schulen und akkreditierte Gäste kostenfrei. Lehrerinnen und Lehrer können ab sofort für ihre Schulklassen Plätze reservieren: 0203/2834379 oder per E-Mail an schule@do-xs.de. Das Wochenendprogramm im Stapeltor ist für alle Familien und Gäste kostenfrei.