Schleiden. Die Wunden der Flut sind zu Narben geworden. Aber viele Menschen haben Schwierigkeiten, sich in ihr neues Leben einzufinden. Ein Besuch vor Ort.
Manchmal geht es schief, wenn Menschen versuchen, Heike Arndt zu trösten. Das Schlimmste, sagt sie, sei der gut gemeinte Satz „Du wirst wieder die Alte“, weil ihr Leben nie wieder so sein wird wie vor der Katastrophe. Das Wasser hat das alte Leben mit sich gerissen, und es prägt das neue, in das sich die Menschen in der Eifel-Gemeinde Schleiden versuchen einzufinden, ein Jahr, nachdem die Urft und die Olef zu alles verschlingenden Monstern wurden.
Schleiden im Kreis Euskirchen. 18 Ortschaften, 13.500 Einwohner. Jeder Dritte von ihnen wurde zu einem Betroffenen, als in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli das Wasser kam. Aus den Wunden, die das Wasser an den Gebäuden und den Straßen gerissen hat, sind Narben geworden. Nur noch wenig erinnert in der Innenstadt an die Katastrophe; das verbogene Geländer einer Fußgängerbrücke, verbretterte Türen und Schaufenster einiger Geschäfte. Der Schutt und die Autowracks sind schon lange weg.
Heike Arndt kann noch immer nicht durchschlafen
Neun Menschen starben damals in Schleiden. Hunderte wurden an Körper und Geist verletzt. Die seelischen Verwundungen sind die, die am schwersten verheilen. Manchmal brechen sie erst viele Monate nach der Katastrophe auf.
Heike Arndt kann heute noch immer keine Nacht durchschlafen. Wenn sie die Sirenen eines Rettungswagens hört, bekommt sie Schweißausbrüche und Panik. Die NRZ hat die 54-Jährige und ihren Sohn Hagen in den vergangenen Monaten mehrmals besucht. Bei unserem jüngsten Besuch kurz vor dem Jahrestag sitzen die beiden auf der Terrasse des Hauses, in dem sie nach der Katastrophe untergekommen waren. Hagen hat an diesem Tag Geburtstag, er ist 20 geworden.
Es sind die Tage, in denen auf allen Kanälen Dokumentationen über die Flut laufen. Hagen ärgert sich manchmal darüber: „Wenn über die Flut berichtet wird, dann wird fast immer nur über irgendwelche Probleme berichtet. Nie über Lösungen. Dass die Flut scheiße war, das weiß ich doch selbst.“ Seine Mutter schaut sich die Dokumentationen nicht an. In diesen Tagen sitzen die beiden auf gepackten Koffern. Sie müssen das Haus verlassen, ziehen jetzt in getrennte Wohnungen. Wieder ein Einschnitt.
Heike Arndt zieht in das Dachgeschoss eines Hauses in der Nähe der Urftseestraße im Stadtteil Gemünd, wo die beiden bis zu der verhängnisvollen Nacht im Juli vergangenen Jahres lebten. „Ich bin dann noch näher am Bach“, sagt sie und lacht, weil das natürlich ein bisschen verrückt klingt. Der Bach, das ist die Urft, die in der Flutnacht über die Ufer stieg und kniehoch im Erdgeschoss stand. Das Wasser macht ihr keine Angst. „Ich glaube nicht, dass das noch mal kommt“, sagt sie. Sie hat schon an der Urft gesessen und die Füße ins Wasser gehalten, so wie früher, und wenn der Regen kommt, dann beunruhigt sie das nicht.
Menschen verarbeiten Katastrophen unterschiedlich. Jeder hat andere Sollbruchstellen, jeder andere wunde Punkte. „Ich habe Bekannte, die haben jetzt eine neue Küche und ein neues Bad, und es ist eigentlich alles besser als das, was sie vorher hatten, aber sie finden es überhaupt nicht toll, weil es nicht mehr ihr Zuhause ist“, erzählt Arndt.
Andrea Di Fraia wiederum hat Angst vor dem Geräusch des Regens. Der 45-Jährige lebt mit seiner Frau und seiner Tochter wenige Meter vom früheren Haus der Arndts an der Urftseestraße entfernt in der Bruchstraße im Haus, das sein Schwiegervater gebaut hat. Stahlbeton, absolut solide. „Das hat wie ein Fels in der Flut gestanden“, erzählt Di Fraia. Das Haus sieht von außen aus wie ein Rohbau, die Klinker hat es bei der Flut weggerissen, der Garten ist zerstört worden, drinnen ist viel kaputt gegangen, als das Wasser gurgelnd durchs Haus strömte und Holz und Heizöl mit sich brachte.
Die Familie ist aber geblieben. Viele Leute sind im Viertel geblieben. „Nach dem Motto: Wir sind Eifeler, wir verlassen unsere Buden nicht“, sagt Di Fraia lächelnd. In den vergangenen Monaten ist die Nachbarschaft enger zusammengewachsen, sagt er. „Man steht oft zusammen und redet oder grillt gemeinsam.“ Nicht alle konnten jedoch bleiben. Hier, wo die Flut am ärgsten gewütet hat, sind viele Häuser noch immer Baustellen. Manche können nicht mehr bezogen werden. Das Haus gegenüber dem der Familie Di Fraia sieht äußerlich intakt aus, muss aber abgerissen werden. Es hat sich vollgesogen mit dem Wasser.
Auch die Familie Di Fraia ist äußerlich intakt. „Aber ich denke darüber nach, psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen“, sagt der 45-Jährige. „Manchmal muss man sich eingestehen, dass man Hilfe braucht“, sagt er.
Er ist nicht der einzige, bei dem die Verwundungen erst jetzt aufbrechen. Im Fluthilfezentrum in Gemünd, einer zentralen Anlaufstelle verschiedener Hilfsorganisationen, hat Annette Schäfer am Tag des Besuchs der NRZ einen neuen Klienten empfangen. Ein älterer Mann, der mit seiner Frau in der Urftseestraße wohnte. „Die beiden sind damals knapp mit dem Leben davongekommen“, erzählt die Sozialarbeiterin der Caritas. Jetzt merken sie, dass sie Hilfe brauchen. Den Schritt zur Beratungsstelle zu wagen und um psychosoziale Unterstützung zu bitten, koste viele Menschen Überwindung. „Gerade bei Leuten aus der Mittelschicht muss die Fassade stimmen, die sagen deshalb häufig, dass sie keine Hilfe brauchen.“
Und anders als Andrea Di Fraia hat Schäfer die Erfahrung gemacht, dass manche ihrer Klienten nicht mehr dorthin zurückwollen, wo die Flut in ihr Leben eingebrochen ist. „Manche haben Tote gesehen.“ Allein im kleinen Stadtteil Gemünd starben fünf Menschen. „Einer hat die Leiche seiner Mieterin im Garten gefunden.“ Den Wegzug leichter mache nun eine neue Regel des Landes. Bislang habe gegolten, dass Wiederaufbauhilfe nur fließt, wenn man sich verpflichtet, fünf Jahre in dem Haus zu bleiben, für das man Geld für den Wiederaufbau bekommen hat. Das gilt jetzt nicht mehr.
Wiederaufbauhilfe in Höhe von 176,6 Mio Euro beantragt
Größere Probleme bei der Zahlung von Wiederaufbauhilfe hat Schäfer bei ihren Beratungen nicht festgestellt. „Die staatliche Hilfe funktioniert oft besser als die der Versicherungen.“ Allein für Schleiden sind fast 800 Anträge von Privatleuten beim Land eingegangen, für den gesamten Kreis Euskirchen sind es mehr als 5500. Gesamtsumme: 176,6 Millionen Euro. Bei der städtischen Infrastruktur hat Bürgermeister Ingo Pfennings Schäden in einer Gesamthöhe von 210 Millionen Euro registriert.
Die Kindertagesstätten und die Schulen in Schleiden sind zwar noch immer reparaturbedürftig, können aber betrieben werden, die Straßen und Brücken sind wieder befahrbar, die Jugendherberge nimmt wieder Gäste auf. „Auch die Touristen kommen wieder“, erzählt Pfennings. Wie lange alle Schäden behoben werden, weiß er nicht. 2028 könne es sicherlich werden. Möglichst schnell sollen in Schleiden erste Maßnahmen für den Hochwasserschutz umgesetzt werden, Flächen, auf die das Wasser ausweichen kann, wenn es wieder steigt, Verbesserungen der Bachläufe.
Um 21 Uhr werden die Kirchenglocken läuten
Seit der Flut ist Pfennings im Dauereinsatz. 80-Stunden-Wochen waren die Regel. „Ende August, Anfang September will ich mich mal rausziehen.“ Am Jahrestag der Flut wird Pfennings mit den beiden Pfarrern der Stadt Kränze an vier Stellen niederlegen, an denen Menschen starben. Es wird ein stilles Gedenken. Um 21 Uhr werden aber die Kirchenglocken läuten. „Das war der Moment, in dem ich das Kommando gegeben habe, dass die Katastrophenschutz-Sirenen heulen sollen“, sagt Pfennings. Auch vor der Nikolaus-Kirche in Gemünd wird Pfennings einen Kranz niederlegen. Sie steht da, wo Olef und Urft zusammenfließen. Bei der Flut wurde das Gotteshaus aus dem 19. Jahrhundert schwer beschädigt.
An dem Zaun vor der Kirche hing bis vor Kurzem ein Transparent, auf dem den vielen freiwilligen Helfern gedankt wurde, die nach der Flut aus ganz Deutschland kamen. Noch heute gibt es Menschen, die Unterstützung leisten. Jetzt hängt an dem Zaun eine blau-gelbe Fahne. „Stand with Ukraine“ steht darauf. In Schleiden sind 60 Flüchtlinge aus dem Kriegsland untergekommen.