Krefeld. Christoph Peters aus Kalkar erhält den Niederrheinischen Literaturpreis. Sein „Dorfroman“ sei ein „perfekter Niederrheinroman“, so die Jury.
Christoph Peters geht lieber auf Nummer sicher: „Vielleicht rufen Sie doch besser mich an, ich vergesse sowas sonst schnell schon mal, wenn ich erst angefangen habe zu arbeiten…“ Für ein Interview über den Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld, den er als erster Autor zum zweiten Mal erhält, lässt er sich jedoch gern in seiner Arbeit unterbrechen. Und so geht pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt ein Anruf raus nach Berlin, wo der 55-Jährige mittlerweile lebt – und bereits nach dem zweiten Klingeln abnimmt.
Herr Peters, wie fühlt es sich an, zum zweiten Mal mit dem Niederrheinischen Literaturpreis auszeichnet zu werden?
Ganz großartig! Obwohl ich schon lange woanders lebe, ist meine Verbindung zum Niederrhein auf der Herzensebene sehr stark.
Sie sind in Kalkar geboren, leben aber schon seit einigen Jahren in Berlin. Wie lässt sich aus der Entfernung ein „perfekter Niederrheinroman“, wie die Jury Ihren „Dorfroman“ bezeichnet, schreiben?
Bis vor drei Jahren haben meine Eltern in Kalkar-Hönnepel gelebt, deshalb war ich immer regelmäßig vor Ort. Als mein Vater krank geworden ist, sind die beiden zu meiner Schwester nach Leverkusen gezogen und haben das Haus verkauft. Deshalb habe ich jetzt tatsächlich keine Basis mehr am Niederrhein und muss mir jedes Mal ein Hotel nehmen, wenn ich dort beruflich bin, meine anderen Verwandten treffe oder so wie im Juli an der Anti-Atomkraft-Radtour teilnehme. Dass ich mich durch den Verlust des Elternhauses entwurzelt fühle, ist mir vorher nicht so klar gewesen. Mein „Dorfroman“ ist quasi eine Zusammenfassung dessen, was mir das Leben dort bedeutet hat und immer noch bedeutet.
Der Ich-Erzähler in Ihrem Buch kommt nach 30 Jahren zurück in seine alte Heimat Hülckendonck, ein Dorf am Niederrhein, und alles erscheint ihm vertraut und fremd zugleich. Ein Gefühl, das auch Sie kennen?
Je älter ich werde, desto mehr merke ich, dass mir kein anderer Ort so vertraut werden kann wie meine alte Heimat. Deshalb möchte ich irgendwann auch wieder zurück an den Niederrhein – was ich mir mit 20 Jahren nie hätte vorstellen können.
Der Roman ist autofiktional. Wie viel Fiktion und wie viel Realität steckt drin?
Es ist schwer zu sagen, ab wann Realität zur Fiktion und Fiktion zur Realität wird. Natürlich hat keiner der Dialoge im Roman genau so stattgefunden, nach 50 Jahren kann ich mich einfach nicht mehr wortwörtlich an alles erinnern. Aber das grobe Szenario des Buchs stimmt schon mit der Realität überein.
Im Mittelpunkt steht die Errichtung des Atomkraftwerks „Schnellen Brüters“ in Kalkar. Wie haben Sie damals die lautstarken Proteste wahrgenommen?
Ich komme aus einer sehr konservativen, CDU-nahen, katholischen Familie und in den 1970er Jahren waren meine Eltern für die Errichtung des „Schnellen Brüters“. Als Fünf- oder Sechsjähriger baut man ja noch keine politische Opposition zu den Eltern auf, deshalb dachte ich auch, dass so ein Atomkraftwerk gut und sicher sei. Die politische Szenerie der 1970er war außerdem geprägt von der der RAF, und die 68er-Bewegung habe ich in meiner kindlichen Wahrnehmung ebenfalls als linksextremistische Bedrohung angesehen. Das ist dann umgeschlagen, als ich 14 oder 15 Jahre alt war – so wie bei der Romanfigur.
Wie kam der Sinneswandel zustande?
In der Zeit habe ich mich besonders für Greifvögel oder auch Schmetterlinge interessiert, die es aber am Niederrhein kaum noch gab. Darüber bin ich dann auf den ökologischen Zug aufgesprungen und habe mich von meinen Eltern politisch distanziert.
Wäre es Ihrer Meinung nach ohne den größten anzunehmenden Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl im Jahr 1986 doch noch zur Inbetriebnahme des „Schnellen Brüters“ gekommen?
Eine Reihe von Faktoren haben damals zu einer Bewusstseinsänderung geführt, aber Tschernobyl war sicher der ausschlaggebende Punkt. Ursprünglich hatte man ja den Bau des „Schnellen Brüters“ damit begründet, dass man Sorge hatte, die Uranvorkommen seien begrenzt. Aber im Laufe der 1970er zeigte sich dann, dass man in anderen Ländern weiter Uran fördern konnte. Bis heute wird ja darüber diskutiert, ob es wirklich sichere Atomkraftwerke gibt – ich habe daran immer noch so meine Zweifel!
Der Streit um das Atomkraftwerk spaltete die Bundesrepublik Deutschland, das Dorf Kalkar und ganze Familien. Konnten Sie sich mit Ihren Eltern wieder versöhnen?
Als Familie sind wir relativ unbeschadet durch diese Konfliktzeit gelangt. Meine Eltern waren auch einfach zu nett, als dass ich mit ihnen hätte brechen können. Als ich Jahre später mal mit ihnen zusammensaß und darüber sprach, meinte mein Vater: „Von heute aus gesehen ist es natürlich besser, dass der Schnelle Brüter nie ans Netz gegangen ist. Aber damals haben wir eben gedacht, dass es eine sinnvolle Sache sei.“
Sind es die Strukturen eines Dorfes, die Sie in die Großstadt gezogen haben?
All diese Regulierungen, ja Überwachungsstrukturen, davor wollte ich schon weglaufen. Es war beispielsweise unvorstellbar, dass meine Freundin bei mir übernachtet, solange wir nicht verheiratet sind. Und ständig wurde darüber geredet, wer mit wem etwas hatte.
Und was mögen Sie am Niederrhein, was vermissen Sie vielleicht sogar?
Ich liebe die Landschaft und damit meine ich nicht nur die topografische, sondern auch die historische. Berlin ist eine neue Stadt, die eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert relevant ist. Mir fehlt es, auf einem Boden zu stehen, der historische Tiefe hat. Der am Niederrhein ist ja quasi getränkt von der römischen und keltischen Kultur. Aber ich mag auch die Sprache und fühle mich wohl, wenn ich einfach nur den niederrheinischen Singsang höre. Und ich gehe gern am Rhein spazieren, der für mich immer ein Trost- und Denkerort war.
Ihr Buch ist kein historischer, sondern auch ein aktueller „Dorfroman“…
Genau, ich habe mich gefragt, wo und wie ich selbst eigentlich leben möchte. Ich wünsche mir immer mehr, dass ich draußen keinen Lärm wie hier in Berlin, sondern wieder Vogelgezwitscher höre. Aber könnte ich eigentlich zurück an den Niederrhein? Ist der Ort, nach dem ich mich sehne, eine realer Ort oder ist er ein Ort der Vergangenheit, den es so nicht mehr gibt? Der Niederrhein hat sich ökologisch verändert – wo früher Landwirtschaft betrieben wurde, sind heute Wohngebiete. Auch die religiösen Strukturen sind andere. Wir waren früher alle auf der Fronleichnamsprozession, heute geht vielleicht noch ein Viertel dorthin und die anderen wissen nicht mal, was das ist. Oder die drei Kneipen aus meiner Kindheit, die gibt’s alle nicht mehr. Die Dorfgemeinschaft, die ja durchaus Fallstricke mit sich brachte, hat auch für Geborgenheit gesorgt. Wäre es für mich erleichternd, dass es sie nicht mehr so in der Form gibt?
Hat sich denn Ihre Ansicht, wo Sie leben möchten, durch die Arbeit am „Dorfroman“ verändert?
Das Schreiben des Buchs war auch ein Abschiednehmen, denn an dem Tag, an dem ich damit fertig wurde, ist mein Elternhaus verkauft worden. Und das Endgültige hat schließlich meinen Blick noch einmal verändert.
Inwiefern?
Plötzlich dachte ich: Ich Idiot, ich will doch eigentlich zurück! Wieso habe ich das nicht vorher gesehen? Aber die Preise für ein Eigentumshaus am Niederrhein sind aktuell einfach zu hoch.
Dann muss eben der nächste Bestseller geschrieben werden…
Ja, ich bin schon dran. (lacht)
Der da wäre?
Im August erscheint mein neues Buch „Der Sandkasten“, der das komplette Gegenteil von „Dorfroman“ ist. Die Geschichte spielt am 9. und 10. November 2020, also mitten in der Pandemie, und es geht darin um einen Radiojournalisten, der früher immer alles drastisch formulieren konnte, sich jetzt aber in einer politisch korrekten Szene wiederfindet und sich daran aufreibt. Wie es ausgeht, verrate ich jetzt aber nicht…
>>>Niederrheinischer Literaturpreis 2022
Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren und lebt seit 2000 in Berlin. 1999 wurde er für seinen Debütroman „Stadt Land Fluss“ erstmals mit dem Niederrheinischen Literaturpreis ausgezeichnet, den die Stadt Krefeld alle zwei Jahre vergibt. 2022 erhält er den 10.000 Euro dotierten Preis für seinen „Dorfroman“ und für die schriftstellerische Entwicklung, die er seit „Stadt Land Fluss“ bis zu diesem „perfekten Niederrheinroman“ genommen hat. Oberbürgermeister Frank Meyer überreicht den Preis am Sonntag, 6. November, im Rahmen einer Feststunde.
Peters‘ „Dorfroman“ erzähle mit dem fokussierten Blick auf die Geschehnisse rund um die Errichtung des „Schnellen Brüters“ im niederrheinischen Kalkar von einer Epochenwende der Bundesrepublik und vom Erwachsenwerden eines Jugendlichen zugleich. „Die Gründlichkeit, mit der Peters‘ „Dorfroman“ die Besonderheit der niederrheinischen Landschaft und der Menschen dieser Region porträtiert, wird nur noch übertroffen von der Sorgfalt, mit der er gesellschaftliche wie private Konfliktlinien zu einem historischen Panorama verdichtet“, heißt es in der Jury-Begründung.