An Rhein und Ruhr. Die Kampagne „Tausende Gärten – Tausende Arten“ soll in Deutschland ein Netzwerk aus Natur-Oasen schaffen. Ein Besuch in der Öko-Gärtnerei.

Stellen Sie sich vor, Sie haben seit zwei Tagen nichts gegessen, endlich setzt Ihnen jemand die herrlichsten Tortenstücke vor die Nase, süß duftend, bunt verziert, ein Festmahl. Sie stürzen sich auf den Teller – und beißen auf bemalten Beton. Das Festmahl ist ein Fake. So ähnlich geht es Millionen Insekten, wenn sie über einem Garten kreisen. Petunien in allen Regenbogenfarben, Dipladenien, Hortensien… Die meisten überzüchteten Sommerblumen und Stauden bieten Wildbienen, Hummeln und Co. keine Nahrung, sondern eine böse Überraschung.

Die gute Nachricht: Diesen botanischen Irrsinn kann jeder Balkon- und Gartenbesitzer kinderleicht verhindern. Wir brauchen eine Bürgerbewegung mit Harke und Schüppchen, ein kollektives Buddeln in Beet und Blumenpott: Die bundesweite Kampagne „Tausende Gärten – Tausende Arten“ (TGTA) soll Vorurteile ausrupfen, damit auf privaten und öffentlichen Grünflächen wieder Oasen für heimische Pflanzen und Tiere gedeihen.

Die Natur ist Perfektionistin

Der TGTA-Partner im Ruhrgebiet könnte nicht besser platziert sein. Die Staudengärtnerei „Gartenwert“ liegt im Epizentrum des ökologischen Wandels, direkt hinterm Oberhausener Emscher-Deich. Deutschlands schmutzigster Fluss ist nach 30 Jahren Umbauarbeit jetzt offiziell abwasserfrei und wird weiter renaturiert. Die Tausenden Blumentöpfe der „Gartenwert“-Inhaber Sabrina Wildi und Dirk Wischmann haben ebenfalls das Zeug zum Naturschutz-Vorzeigeprojekt. „Wir konzentrieren uns auf heimische Pflanzen. Verglichen mit den Gartencentern sind wir sowas wie der Bauernladen“, erklärt der 38-Jährige. Die Stauden werden auf dem 6000-Quadratmeter-Gelände selbst gezogen, das Team hat jedes der rund 20.000 Pflänzchen persönlich in den Händen gehalten. Das hat nichts mit bäuerlicher Romantik zu tun, sondern mit angewandter Biologie.

Die Rundblättrige Glockenblume passt auf den Speiseplan der hiesigen Insekten.
Die Rundblättrige Glockenblume passt auf den Speiseplan der hiesigen Insekten. © picture alliance | Andreas Pulwey

Heimische Pflanzen sind nicht heimelig, sie sind die einzigen funktionierenden Bauteile im empfindlichen Ökosystem: „Wildstauden haben sich über Jahrtausende an den Standort angepasst und bilden die Lebensgrundlage für die hiesige Tierwelt.“ Die Natur ist Perfektionistin. Kelch und Körperbau des Insekts sind aufeinander abgestimmt. Ein Großteil der Bestäuber ist auf eine oder wenige Pflanzenarten angewiesen. Die Geißklee-Sandbiene zum Beispiel sammelt nur die Pollen des Purpur-Geißklees.

Bienen retten ist ja hip – soll aber bitteschön schnell passieren, wie ein Coffee to go. Die Wildblumen-Tütchen aus dem Baumarkt, auch beliebt als „nachhaltige“ Präsente von Autohäusern und Versicherungen, sind meistens Mogelpackungen. Darin stecken viel zu wenige und obendrein exotische Samen. Spektakuläre Blüten… doch nur die wenigen robusten, nicht gefährdeten Insekten vertragen den Inhalt. Das gilt genauso für die Blumen, die an jeder Ecke unter dem Label „bienenfreundlich“ angepriesen werden. Oft sind es industriell überzüchtete Sommerblumen im Stil von Geranien oder Petunien, die im Balkonkasten bis November durchmachen wie Blühroboter. „An diesen ursprünglich subtropischen Pflanzen findet höchstens mal eine Hummel einen Pollen, das war’s“, sagt Dirk Wischmann.

Züchter erschaffen Blüten ohne Pollen

Gipfel der ökologischen Gemeinheit ist der Trend zur gefüllten Blüte. Dafür werden Staubgefäße zu Blütenblättern umgezüchtet. Und die Knospenheide aus dem Massen-Floristik-Labor hält scheinbar ewig, weil ihre Knospen sich nicht mehr öffnen. Leben verödet zur leeren Deko. Das muss man der Menschheit erstmal nachmachen: Aus Nektar wird… Nichts.

Für den naturnahen Garten greift der Staudenspezialist auf 230 heimische Gewächse zurück. So ist gesichert, dass die Pflanzen auf den Speiseplan der Tiere passen.

An der hier heimischen Wiesen-Witwenblume finden Fluginsekten ausreichend Nahrung.
An der hier heimischen Wiesen-Witwenblume finden Fluginsekten ausreichend Nahrung. © picture alliance / Zoonar | Gerd Herrmann

Müssen wir jetzt alle Beete plattmachen, nicht-regionale Arten wie Kosmeen, Sonnenhut und Rosmarin ausbuddeln, stattdessen Purpurklee und Ferkelkraut kaufen? Wischmann und Wildi raten zum Kompromiss: „Der Kunde soll sich ja wohlfühlen in seinem Garten.“ Klar braucht man Rasen, wenn die Kinder Fußball spielen wollen: „Aber überall, wo’s nicht stört, kann man wilde Ecken anlegen.“ Entscheidend ist das Umdenken, das Umgraben alter Vorurteile: Nicht jeder grüne Zentimeter muss unter Kontrolle gebracht werden. Jedes Gänseblümchen, das stehenbleibt, hilft den bedrohten Tierarten.

Ob Beet oder Balkonkasten… die Wildblumenstauden verhindern wuchernde Kosten. Glockenblumen, Schlüsselblumen oder kleine Fetthennen gedeihen in unserem Klima zuverlässiger als Exoten und kommen im nächsten Jahr wieder. Anfangs erfordert die Gestaltung eines Natur-Gartens mehr Aufwand. Man braucht Fachkenntnisse, um einen ergiebigen Kompost („Bloß nicht im Plastik-Schnellkomposter!“) anzulegen, damit man auf die handelsüblichen giftigen Dünger und klimaschädliche Torferde verzichten kann. Der klug komponierte wilde Hausgarten erhält sich zunehmend selbst – und entwickelt sich mit Wucht zum Wunderland.

Schmetterlinge und Grashüpfer

„Sagenhaft, was auf einer echt heimischen Blumenwiese abgeht!“ Der gebürtige Oberhausener, der das Gärtnerhandwerk in der Schweiz lernte, staunt jedes Mal wieder: „Wir erleben da regelmäßig filmreife Szenen auf unserem Gelände. Kinder, die barfuß durch diese Wiesen laufen und jubeln über eine unfassbare Fülle von Blüten, Grashüpfern, Schmetterlingen, Käfern...“

Eine gelungene Wiese kann das große Insektensterben nicht aufhalten. Aber die Kampagne „Tausende Gärten – Tausende Arten“ will in Deutschland 36 Millionen Menschen mit 900.000 Hektar Garten und 58 Millionen Balkon- und Terrassenbesitzer zum Mitmachen bewegen. Die Chancen stehen gut, dass die Wildnis bei uns Wurzeln schlägt.

Dirk Wischmann kommt in seiner Gärtnerei ohne umweltschädliche Dünger und Torferde aus.
Dirk Wischmann kommt in seiner Gärtnerei ohne umweltschädliche Dünger und Torferde aus. © FUNKE / Foto Services | Gerd Wallhorn

Regionaler Partner der TGTA-Kampagne ist auch die prämierte Naturarena beim NABU Wesel (Auf dem Mars 3, 46487 Wesel-Bislich) mit verschiedenen Blumenwiesen, Käfer-und Totholzgarten, Schmetterlingsweiden, Wildstrauchhecken und Kräutergärten. Jeden 1. Sonntag von Mai bis Oktober gibt es Führungen, Saatgut und Wildpflanzen. Infos unter 01515-5288828 oder www.nabu-wesel.de – Mehr über naturnahes Gärtnern unter www.naturgarten.org – Die Staudengärtnerei „Gartenwert“ lädt am Samstag, 30. April, von 10 -16 Uhr zum Tag der offenen Tür, Küperstr. 18, 46147 Oberhausen

Wildstauden: Die zuverlässigen Stars im Garten

Die Kampagne „Tausende Gärten – Tausende Arten“, gefördert vom Bundesamt für Naturschutz, soll erreichen, dass naturnahesGärtnern zum Trend wird. Dazu gehört unter anderem der Aufbau eines Netzwerks von Gärtnereien, die heimische Wildpflanzen anbieten. Für unsere Gegend (Saatgut-Region Nord) werden zum Beispiel diese Wildstauden empfohlen: Gewöhnliche Schafgarbe, Grasnelke, Gänseblümchen, Heil-Ziest, rundblättrige Glockenblume, nesselblättrige Glockenblume, Wiesen-Schaumkraut, Wiesen-Flockenblume, Heide-Nelke, Echtes Labkraut, Wiesen-Witwenblume, Johanniskraut, Wiesen-Margerite, Kuckucks-Lichtnelke, Gewöhnlicher Blutweiderich, Moschus-Malve, Braunelle, Küchenschelle, Großer Wiesenknopf, Tauben-Skabiose, Rote Lichtnelke, Leimkraut, Gewöhnliche Goldrute, Arznei-Thymian.

Die vollständigen Listen zertifizierter Pflanzen finden Sie unter: www.tausende-gaerten.de