NRW-Familienminister Joachim Stamp blickt im Gespräch mit der NRZ auf die Landtagswahl, die aktuelle Corona-Lage und mögliche Koalitionspartner.

Corona, Geflüchtete aus der Ukraine, Energiekrise: Viele drängende Themen stehen aktuell auf der Agenda von Joachim Stamp. Der FPD-Politiker ist nicht nur Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration, sondern auch stellvertretender Ministerpräsident. Gut einen Monat vor der Wahl sprach die NRZ-Redaktion mit dem FDP-Spitzenkandidaten.

Noch ein Monat bis zur Landtagswahl. Alles ist vom Ukraine-Krieg überlagert. Dringt man jetzt überhaupt mit landespolitischen Themen durch? Wie kann man jetzt Wahlkampf machen?

Stamp: Es ist eine Zeitenwende. Nichtsdestotrotz haben wir jetzt die Verantwortung, auch in Zeiten der Krise Landespolitik zu gestalten. Meine vordringlichste Aufgabe ist es jetzt, gemeinsam mit Bund und Kommunen, den Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, hier eine sichere Unterkunft zu bieten. Das steht im Vordergrund. Gleichzeitig ist es für die Gesellschaft wichtig, auch die Dinge im Blick zu behalten, die die Bürgerinnen und Bürger darüber hinaus in NRW bewegen. Es gibt eigene Sorgen wie beispielsweise die Preisentwicklung und Inflation. Die müssen wir ernst nehmen und für die brauchen wir Antworten.

Wo sehen sie denn auf der landespolitischen Ebene die Möglichkeiten, der Preissteigerung entgegenzuwirken? Was kann man tun, um für Entlastung zu sorgen?

Entscheidend ist, dass wir eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik fortsetzen, die gute Arbeitsplätze schafft und sichert. Wir haben ja 2017 den Hebel umgelegt auf eine neue Gründerkultur, auf Bürokratieabbau und mehr Tempo bei der Digitalisierung. In NRW sind seitdem 400.000 neue Arbeitsplätze entstanden. Wenn wir sehen, dass Mitbewerber wie die Grünen auf eine Antiwachstumsstrategie setzen, dann ist das der falsche Weg, um auf die schwierige Situation zu antworten. Wir brauchen noch mehr Innovation und weniger Bürokratie und nicht eine Politik, die auf Verzicht und Verbote setzt.

Zusätzliche Belastungen durch Flüchtlinge: Wie viele Geflüchtete sind derzeit in NRW?

In Nordrhein-Westfalen sind derzeit rund 120.000 Vertriebene aus der Ukraine gemeldet, davon etwa 6.000 in Landeseinrichtungen und fast 113.000 in den Kommunen. Mir ist es an dieser Stelle noch wichtig, nicht nur von einer Belastung zu sprechen. Es ist eine solidarische Gemeinschaftsaufgabe aller staatlichen Ebenen und selbstverständlich, dass wir Kriegsopfern helfen. Und im Übrigen wären die Ukrainer, wenn sie länger bei uns bleiben würden, auch keine Belastung, sondern sie würden hier sogar eine demographische Lücke schließen. Wir wollen allerdings nicht aus dem Leid dieser Menschen Profit ziehen.

Es gibt mittlerweile auch schon Meldungen von Flüchtlingen aus anderen Ländern, die sagen: „In der Warteschlange im Amt überholen uns jetzt die Menschen aus der Ukraine.“ Wie kann man diesem Neid unter den Verfolgten entgegenwirken?

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Wir werden ja unserer sonstigen humanitären Aufgabe gerecht. Dass wir jetzt in einer Situation eines akuten Bomben-Terrors schnell geschützte Räume für Frauen mit Kindern schaffen müssen, ist klar. Und da müssen alle Rücksicht nehmen. Der eritreische Kindersoldat, der vor der Verfolgung flieht, wird hier aber genauso Unterstützung finden, wie die ukrainische Mutter mit Kindern.

Haben Sie das Gefühl, die Kommunen kommen mit der Flüchtlingssituation gut zurecht? Die Kommunen haben bereits Großartiges geleistet. Wir haben mit dem operativen Krisenstab die richtige Steuerung gefunden. Aber klar ist auch, dass natürlich nicht alles optimal laufen kann, weil es eine historische Ausnahmesituation gibt. Wir haben noch nie so viele Menschen in so kurzer Zeit auf einmal aufgenommen. An vielen Stellen wird es deshalb in den nächsten Wochen zu Improvisation kommen, das hat auch mit dem neuen Status der Flüchtlinge zu tun, den die EU den Ukrainern gegeben hat. Der ist einerseits hilfreich, da er die private Verteilung deutlich verbessert. Von der Steuerung ist es schwieriger, da wir die Menschen nicht so strikt zuweisen können, wie es sonst möglich ist. Wir haben so viele Plätze ausgebaut wie möglich und setzen das konsequent weiter fort. Weil wir nach wie vor keine Planungsgröße vom Bund genannt bekommen haben, wissen wir aber auch nicht genau, worauf wir uns noch vorbereiten müssen. Das ist auch vom Kriegsverlauf abhängig, aber es wäre sehr hilfreich, wenn der Bund uns eine Planungsgröße nennen würde. Wir bauen vorsichtshalber Notplätze aus.

Welche Möglichkeit sehen sie, die Flüchtlinge besser zu verteilen, dahin wo wirklich noch Plätze sind? Auch aufs Land, anstatt, dass alle nur in den großen Städten wie Essen, Köln und Düsseldorf bleiben?

Wir verteilen bereits weiter, und wir haben ja auch eine rund um die Uhr besetzte Hotline, an die sich die Kommunen wenden können, wenn sie keine Plätze mehr haben. Dann kommen die Menschen in Landesunterkünften unter. Überall wo es freiwillige Unterbringungen gibt, hilft das. Die exakte Steuerung bleibt aber auch weiterhin eine Herausforderung.

Für die Kommunen ist das eine echte Herausforderung, nicht die einzige. Viele Städte ächzen unter der hohen Schuldenlast. Was ist ihre Vorstellung zum Thema Altschulden? Brauchen wir mehr Investitionen in die Kommunen? Altschuldenerlass, Stichwort „Entfesselung“?

Dazu hat uns Bundesfinanzminister Christian Lindner Angebote gemacht, dass Bund und Länder sich das teilen können – das werden wir weiter besprechen. Klar ist, dass es auch die Konsequenz hätte, dass es eine entsprechende Schuldenbremse bei den Kommunen geben muss, sodass keine weitere Neuverschuldung möglich ist. Es geht darum, dass die Kommunen handlungsfähig bleiben. Aber gerade bei den Flüchtlingskosten wird hier keine Kommune in Schwierigkeiten kommen.

Es wird vermehrt eine prekäre Situation bei Familien beklagt. Es gibt an vielen Stellen Kinderarmut. Wie sehen Sie die Lage der Familien, wenn in manchen Ruhrgebietsstädten ein Drittel in Hartz IV lebt?

Daran muss man weiterarbeiten, und das gehen wir konkret an. Wir wollen insbesondere die Kinder aus bildungsschwächeren Familien fördern. Wir haben dazu die Talentschulen auf den Weg gebracht, die mittlerweile auch der Bund im Koalitionsvertrag verankert hat. Wir wollen darüber hinaus die starke private Initiative aus dem Ruhrgebiet der Talentscouts ausweiten, um auch Talente aus Familien, die eher bildungsfern sind, individuell zu fördern. Das ist für tausende Kinder und Jugendliche schon jetzt eine richtig starke Erfolgsstory geworden. Beides wollen wir auf ganz NRW ausweiten. Wir wollen insgesamt die frühkindliche Bildung weiter stärken. Wir haben zusätzlich 1,3 Milliarden jährlich ins System gegeben im Rahmen der Kinder-Bildungsgesetz-Reform. Das Präventionsprogramm „Kinderstark“ gibt Familien in prekären Lebensverhältnissen Hilfestellung und schützt die Kinder. Wir haben mit dem ersten Kinderschutzgesetz hier in NRW bundesweit Maßstäbe gesetzt. Wir haben auch die Familienzentren weiter ausgebaut mit niedrigschwelligen Angeboten, sich im Behördendschungel zurechtzufinden. Dann unterstützen wir die vom Bund geförderte Kindergrundsicherung. Das sind alles Schritte in die richtige Richtung, damit wir Familien Perspektiven schaffen, auch aus Hartz IV herauszukommen.

Die kleine FDP setzt in Berlin die Aufhebung von Coronabeschränkungen durch und wird dafür kritisiert. Es wird so viel wie möglich gelockert und auf der anderen Seite appellieren alle Politiker dringend an die Bevölkerung, jetzt möglich nichts am Verhalten zu ändern. Das ist doch ein Widerspruch?

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Nein, die Frage ist, ob wir den Rechtsstaat deformieren, obwohl keine Überlastung des Gesundheitssystems droht. Wir dürfen nicht auf Vorrat Grundrechte einschränken. Wo kommen wir da perspektivisch hin? Wir haben in den Phasen von Alpha- und Delta-Variante die Maßnahmen mitgetragen, als es notwendige Einschränkungen geben musste. Wir haben aber immer darauf geachtet, dass die Verhältnismäßigkeit gewahrt blieb. Jetzt ist die Situation aber völlig anders: Wir haben viele Ansteckungen, auch mich hat es erwischt, aber kaum schwere Verläufe mehr. Wir müssen uns jetzt wie die anderen europäischen Nachbarländer aus der Angstspirale lösen. Wir vollziehen jetzt einen Weg, der in Europa Normalität ist.

Wenn Sie jetzt in den Supermarkt gehen – tragen Sie dann Maske?

Ja, ich würde beim Einkaufen im Supermarkt die Maske tragen. Jeder kann sich eigenverantwortlich schützen.

Sind Sie für eine Impflicht?

Das ist die Frage, wie man sie angeht. Ich bin da sehr ambivalent. Ich persönlich habe Sympathien für eine Beratungspflicht mit einem kombiniertem Impfangebot. Da kann man sicherlich noch viele Menschen erreichen.

Corona hat sich stark auf die psychische Gesundheit der Kinder ausgewirkt. Viele haben stark gelitten, und es gibt vermehrt Depressionen. Welche Hilfe kann man Kindern da anbieten?

Das ist eine extrem hohe Herausforderung. Ich habe immer mit Schulministerin Yvonne Gebauer dafür gekämpft, die Schulen und Kitas so lang wie möglich offen zu halten, und wir sind dafür als Durchseucher und Kindermörder im Internet beschimpft worden. Bei uns war es immer die Abwägung, dass wir Krankheiten wie Long Covid im Verhältnis zu sonstigen psychischen und gesundheitlichen Schäden sehen, und dass es darum sinnvoller ist, die Einrichtungen offen zu halten. Dazu haben uns auch Wissenschaftler und Kinderärzte geraten.

Die aktuellen Umfragen sagen voraus, dass es für CDU und FDP nach der Wahl keine Mehrheit mehr gibt. Was wäre Ihnen am liebsten: eine Ampel mit Grünen und SPD? Oder Jamaika mit CDU und Grünen?

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Von Matthias Korfmann, Tobias Blasius und Stefan Meinhardt

Das ist längst nicht ausgemacht, dass es für ein neues Bündnis von CDU und FDP nicht reicht. Das war vier Wochen vor der letzten Wahl auch undenkbar und alle schrieben von einer rot-gelben Koalition. Unabhängig von den Umfragen muss man sagen, dass die FDP im Bund in der Ampel und hier in NRW mit der CDU sehr vertrauensvoll zusammenarbeitet. Auf Bundesebene bleibt alles intern, was zwischen den Koalitionsparteien besprochen wird, und so ist das auch seit fünf Jahren hier mit der CDU, und das ist ein hoher Wert. Bei der CDU im Bund ist es das Gegenteil: Dort herrscht Unprofessionalität und Unkollegialität, was da alles aus vertraulichen Gesprächen an die Presse durchgestochen wird. Auf Bundesebene ist die CDU darum derzeit nicht koalitionsfähig.

Eine vertrauensvolle Arbeit mit der SPD wäre aber auch denkbar, wie jetzt mit der CDU?

Die SPD hat eine lange Tradition in NRW. Wie eine Zusammenarbeit jetzt wäre, kann ich nicht abschließend sagen. Wir haben aber eine gute Zusammenarbeit mit der CDU, die wir auch gerne fortsetzen. Wichtig ist uns nun aber erstmal, als Freie Demokraten möglichst stark zu werden.

Zum Thema Klima: Ist NRW bei der Frage der Klimaneutralität weit genug vorangekommen?

Wir haben die Klimaziele der Vorgängerregierung übertroffen, sind beim Ausbau der Windkraft und Solarenergie unter den ersten drei bundesweit, und haben weitere ambitionierte Ziele. Was jetzt ganz wichtig wird, auch bundesweit: Wir müssen zu einer Halbierung der Planungs- und Genehmigungsverfahren kommen, sonst werden wir die Energiewende nicht schaffen.

Sollten die AKWs in NRW noch länger laufen?

In NRW selbst haben wir ja keine Atomkraftwerke. Ich bin aber dafür, die Kernkraft als Überbrückungstechnologie für wenige Jahre noch einmal ernsthaft zu prüfen.

Und wie ist es beim Thema Braunkohle?

Die Prozesse müssen gestreckt werden und brauchen eine gewisse Flexibilität, je nachdem, wie die anderen Bereiche vorankommen. Es darf aber nicht dazu führen, dass wir uns schon jetzt von unseren ambitionierten Zielen verabschieden, 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen.

Ihre Position zum Thema Gas-Embargo?

Ich vermag nicht zu bewerten, inwiefern Chinesen, Inder und andere in die Lücke so stark reingehen, sodass der Verlust für Putin relativ überschaubar ist und wir umgekehrt unsere Wirtschaft ruinieren. Wir müssen auch dauerhaft unseren Kurs gegen Putin durchhalten können. Wäre in den nächsten 14 Tagen mit einem vollständigen Embargo der Krieg beendet, würde ich, wie wahrscheinlich alle, zustimmen. Aber so ist die Situation derzeit nicht. Außerdem verschärft sich die Situation in Afrika katastrophal. Dort drohte schon vor Kriegsbeginn aufgrund eines extremen Dürrejahrs eine Hungerskatastrophe. Da jetzt die Ernte der Kornkammer Ukraine wahrscheinlich ausfällt, steigen die Weizen- und Lebensmittelpreise bereits massiv in die Höhe. In der Sahel-Zone droht die Katastrophe, dass acht bis 12 Millionen Menschen verhungern. Für solche Situationen müssen wir auch stark genug sein, um helfen zu können. Das muss bei der schwierigen Abwägung berücksichtigt werden.