An Rhein und Ruhr. Wegen sinkender Kirchensteuern muss die evangelische Kirche sparen. Präses Thorsten Latzel erklärt, wie er trotzdem die Seelsorge stärken will.

Vermutlich hat Thorsten Latzel gehofft, auf der am Sonntag beginnenden Synode als Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland ein Resümee ziehen zu können über seine ersten Erfahrungen und die Kirche in der Pandemie - zumal die Herausforderungen groß sind. Bis 2030 wird die Zahl der Pfarrstellen der Evangelischen Kirche im Rheinland von rund 1800 auf etwa 1000 abgesenkt, um sinkenden Kirchensteuerzahlen Rechnung zu tragen. Dennoch, so Präses Thorsten Latzel, soll der Bereich Seelsorge gestärkt werden. Über Enttäuschung, Hoffnung und die Entwicklung der Landeskirche sprachen Rosali Kurztbach, Peter Toussaint und Stephan Hermsen mit ihm.

Wo steht die Evangelische Kirche nach zwei Jahren Pandemie?

Wir stellen eine neue Verletzlichkeit der Gesellschaft fest. Jeder einzelne spürt, wie ermüdend diese Pandemie ist. Wir stoßen alle an Grenzen der Belastung. Und ich sehe die Gefahr, dass wir eher übereinander statt miteinander reden. Als Kirche vermitteln wir Hoffnung aus unserem Glauben und treten für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ein. Wir sind etwa klar für die Impfung, weil sie Leben schützt. Aber wir wollen auch mit jenen, die sich nicht impfen lassen, im Dialog bleiben. Wir merken: diese Pandemie hat zu viel offensichtlichem, aber auch zu viel verborgenem Leid geführt.

Was ist die Antwort der evangelischen Kirche darauf?

Mir ist wichtig: Wir lassen niemanden allein. Auf der Jahressynode mit dem Schwerpunktthema Seelsorge machen wir das sichtbar: Seelsorge ist da! Wir begleiten die Menschen auch in den Krisen ihres Lebens. Wir brauchen eine persönliche aber auch eine öffentliche Form der Seelsorge. Die Synode findet – coronabedingt – erneut virtuell statt.

Wegen der Flutkatastrophe hätten Sie ohnehin nicht wie gewohnt in Bad Neuenahr tagen können. Wann werden Sie zurückkehren?

Die Synode lebt von Begegnung. Es ist ein echter Verlust, dass wir nur digital tagen können. Bad Neuenahr ist einer der von der Flutkatastrophe am härtesten getroffenen Orte. Die Kirche dort, aber auch unser Tagungszentrum und unsere Hotels sind in Mitleidenschaft gezogen worden. Derzeit ist offen, wo wir mittelfristig hingehen werden, da dort ohnehin umgebaut wurde. Aber viele von uns haben an Bad Neuenahr als traditionellem Synodenort persönliche Erinnerungen. Es tat besonders weh, das zerstört, überflutet, weggerissen zu sehen.

Im blauen Trikot: Thorsten Latzel auf seiner „Sommertour der Hoffnung“. Per Fahrrad war er mehr als 600 Kilometer unterwegs, hier trifft er in Wesel ein.
Im blauen Trikot: Thorsten Latzel auf seiner „Sommertour der Hoffnung“. Per Fahrrad war er mehr als 600 Kilometer unterwegs, hier trifft er in Wesel ein. © FUNKE Foto Services | Markus Joosten

Wie erlebt die Kirche die erhöhte Nachfrage nach Seelsorge in den Zeiten von Corona und der Hochwasserkatastrophen? Die Kirchen werden doch immer leerer.

Zunächst: Die Teilnahme an Gottesdiensten hat durch digitale Verbreitung sogar zugenommen - das ist natürlich eine andere Form der Begegnung. Seelsorge findet dabei nicht nur durch Gottesdienste statt. Es gibt sie in Schulen, Krankenhäusern, am Gartenzaun. Ein Beispiel ist Notfallseelsorge. Das haben Menschen in der Flut erlebt: Kirche ist da. Ein Feuerwehrmann hat mir erzählt: Als ich auf dem Weg in die Flutgebiete war, war es für mich tröstlich zu wissen: Ich habe die Rufnummer meines Seelsorgers dabei und kann ihn anrufen.

Was haben Sie konkret getan?

Wir waren in der ersten Phase mit vielen Notfallseelsorgern vor Ort. Im Herbst haben wir dann zusätzlich 40 Flutseelsorgerinnen in die Gebiete entsandt, die die Menschen zuhause besuchen, sie diakonisch beraten, wenn es um Anträge geht, aber eben auch seelsorgerische Gespräche anbieten. Mir hat jemand erzählt: „Ich habe nicht geweint, als das Wasser kam. Ich habe geweint, als die Helfer kamen. Das hat mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben.“ Als Kirche haben wir dabei eine beeindruckende ökumenische Solidarität erfahren, etwa einen Scheck über 5000 Euro aus Papua-Neuguinea, wo unsere Brüder und Schwestern angesichts der Bilder aus Deutschland für uns gesammelt haben. Das fand ich zutiefst berührend. Im Blick auf die Pandemie erleben wir zurzeit eine stärkere Nachfrage bei der Telefonseelsorge. „Sie sind der erste Mensch, mit dem ich heute rede“, ist ein oft gehörter Satz. Die Vereinsamung nimmt zu.

In Ihrem Papier zur Seelsorge steht, dass Sie die anlassbezogene Seelsorge stärken wollen. Müssen Sie dafür gewohnte Gemeindestrukturen aufgeben?

Ich sehe diesen Gegensatz zwischen spezieller Seelsorge und Gemeindeseelsorge nicht. Wir haben in der Tat perspektivisch deutlich weniger Finanzmittel, aber wir werden weiter für die Menschen da sein. Deswegen brauchen wir eine gute Kombination zwischen beruflicher und ehrenamtlicher Seelsorge. Dafür ist die ökumenische Telefonseelsorge ein gutes Beispiel. Da kommen auf einen Berufsseelsorger rund 100 von ihm oder ihr weitergebildete Ehrenamtliche. Wir haben in der Flutkatastrophe zugleich gesehen, wie wichtig professionelle Seelsorgearbeit ist. Da haben wir ein Qualitätsmerkmal.

Welche Berufsgruppen haben Sie im Auge?

Nur wenige Tage nach der Flutkatastrophe verschaffte sich Präses Thorsten Latzel, hier im Gespräch mit Einsatzkräften, unter anderem am traditionellen Ort der Synode in Bad Neuenahr, einen Eindruck von der Lage.
Nur wenige Tage nach der Flutkatastrophe verschaffte sich Präses Thorsten Latzel, hier im Gespräch mit Einsatzkräften, unter anderem am traditionellen Ort der Synode in Bad Neuenahr, einen Eindruck von der Lage. © Evangelische Kirche im Rheinland | Marcle Kuss

In der Polizeiseelsorge zum Beispiel ist es wichtig, dass Sie da Personen haben, die in dem System zuhause sind und wissen, wie der Polizeidienst aussieht. Ähnliches gilt für Feuerwehr oder im Krankenhaus. Da geht es ja nicht nur um Patienten, sondern auch um die dort arbeitenden Menschen. Wir haben mit der Binnenschifferseelsorge in Duisburg ein Alleinstellungsmerkmal. Auf den Schiffen gibt es in der Coronakrise Menschen, die über Monate nicht an Land gehen durften. Uns um alle diese Menschen zu kümmern, ist unsere Aufgabe. Wir müssen schauen: Wie können wir das mit Ehrenamtlichen machen? Wie können wir das ökumenisch machen? Was übrigens mit allen fünf katholischen Bistümern im Rheinland sehr gut klappt. Aber wir müssen auch schauen: Wo gibt es Refinanzierungsmöglichkeiten von öffentlicher Hand?

Wollen Sie für Polizeiseelsorge also eine Rechnung ans Land stellen?

Die Frage ist schon: Wer kümmert sich um die Menschen, die wir als Gesellschaft immer wieder in Konfliktsituationen schicken? Die Polizistinnen und Polizisten müssen trotz aller Anfeindungen und auch in belastenden Situationen immer ruhig bleiben und deeskalieren. Da ist es gut, wenn wir als Kirche für diese Menschen da sind. Ihr erstes Jahr als Präses ist noch nicht ganz vorbei, aber die Zeit war geprägt von Krisen.

Was hat Sie in dieser Zeit positiv überrascht?

Ich fühle mich bereichert, Präses einer solchen inhaltlich reichen Kirche zu sein. Es gab viele Begegnungen auch von Angesicht zu Angesicht. Ich konnte in der Pandemiepause meine „Sommertour der Hoffnung“ machen und 40 Gemeinden besuchen. Ich bin 600 Kilometer mit dem Fahrrad gefahren und überall habe ich engagierte Christinnen und Christen erlebt. Wir dürfen uns nicht kleiner machen als wir sind. Wir sind 2,3 Millionen Menschen hier im Rheinland, wir haben mehr als 100.000 Ehrenamtliche und über 800 Kitas. Und vor allem trägt uns unser Vertrauen auf Gott.

Aber in Deutschland bekennt sich nicht einmal mehr jeder und jede Zweite zu einer der großen Kirchen. Was bedeutet das für Ihren Einfluss?

Jeder Kirchenaustritt schmerzt uns. Wir erleben in vielen Teilen der Gesellschaft, in Parteien, Gewerkschaften, Vereinen, eine Abwendung von Institutionen. Bei jedem Kirchenaustritt gibt es einen Kontaktverlust, die Kirchensteuer ist nur ein Argument. Paradoxerweise ist das Bedürfnis nach Halt und Orientierung in dieser Zeit der Umbrüche sogar gestiegen. Menschen, die aus der Kirche austreten, treten nicht aus ihrem Glauben aus. Kirchen bleiben Orte der Freude, der Trauer und der Hoffnung.

Präses Thorsten Latzel mit einem Dankeschön für die Mitarbeiter der Bahnhofsmission in Duisburg, kurz vor Weihnachten.
Präses Thorsten Latzel mit einem Dankeschön für die Mitarbeiter der Bahnhofsmission in Duisburg, kurz vor Weihnachten. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Fühlen Sie sich zu Unrecht in Mithaftung genommen für die Skandale der katholischen Kirche?

Immer, wenn von „der Kirche“ geredet wird, sind wir in einer Art öffentlicher Haftungsgemeinschaft. Beim Thema Gleichberechtigung, bei der Rolle der Priester, bei der Frage sexueller Selbstbestimmung sind wir anders. Wir haben keinen Papst, bei uns baut sich Kirche von unten nach oben auf. Aber die Zukunft der christlichen Kirche wird eine ökumenische Kirche sein - in versöhnter Verschiedenheit. Es gilt den Reichtum unterschiedlicher Konfessionen zu leben. Uns eint dabei mehr, als uns trennt.

Ist Ökumene derzeit beispielsweise in Köln schwieriger als in Essen?

Ich habe alle fünf Kollegen auf katholischer Seite besuchen können und mehrfach gesprochen. Es ist gut, wenn jede Kirche ihre Hausaufgaben macht, die katholische Kirche braucht unseren Ratschlag nicht. Aber es ist natürlich so, dass die Ereignisse gerade in Köln viele Menschen beschäftigen.

Wäre es nicht klüger herauszustellen: Wir sind die anderen?

Eine reife Schönheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie um die eigene Schönheit weiß und die der anderen wertzuschätzen weiß. Es bringt nichts, zu versuchen, uns auf Kosten von anderen zu profilieren. Wir glauben alle an Christus, sind gemeinsam eingeladen an seinen Tisch. Wir müssen raus aus der Beschäftigung mit uns selbst. Wir sind als Kirche für die Menschen da. Wir müssen uns beispielsweise damit befassen, was wir als Kirche konkret gegen den Klimawandel tun.

Prüfen Sie, ob auf jedes Kirchendach Solarzellen können? Rüsten Sie die Diakonie auf E-Autos um?

Es gibt eine große Tradition der Kirche, sich für die Bewahrung von Gottes Schöpfung zu engagieren. Aktuell befassen wir uns mit dem Gebäudemanagement, da wird der größte CO2-Ausstoß produziert. Es wird darum gehen, das ambitioniert, aber realistisch anzugehen. Das ist eine Herausforderung.

Sie wollten gerade jungen Menschen zurückholen. Wie weit sind Sie da gekommen?

Wir wollen mehr junge Leute auf die Kanzel holen. Der Wunsch und Anspruch, jungen Menschen stärker Raum zu geben, ist da. Bei der Partizipation von jungen Menschen in den Presbyterien sind wir schon weit gekommen. Es ist ein Schwerpunkt, vor allem die 20- bis 40-Jährigen anzusprechen. Da haben wir die größte Kirchenaustrittsneigung, diese Altersgruppe hat jedoch als Elterngeneration eine wichtige Bedeutung für die Weitergabe des Glaubens. Deswegen wollen wir etwa den Bereich Kita sichern und stärken.

Der neue Bundeskanzler ist konfessionslos. Was sagen Sie Kanzler Scholz, was ihm fehlt?

Ich bin erst einmal dankbar darüber, wie reibungslos hierzulande der Machtwechsel ablief. Bei Angela Merkels Abschied habe ich eine zutiefst protestantische Haltung gespürt und ein politisches Ethos, das ich sehr eindrucksvoll fand. Ich würde das etwa nicht an der Frage der Eidesformel festmachen. Ich habe in Gesprächen mit vielen Politikerinnen und Politikern festgestellt, dass sie eine hohe Verantwortung tragen und sie das oft auch belastet. Ich denke, es tut Politikern gut, dass sie sich von Gott gehalten wissen und auch mit unausweichlichen Fehlern umgehen können.

Welche Rolle spielt Religiosität, spielt Jesus Christus bei Ihrer Arbeit? Kann man den Menschen noch sagen: Du findest Trost und Zuversicht in Gott?

Die Frage nach Gott ist überhaupt nicht weg. Ich gehe zum Beispiel in meinem Blog auf Fragen ein, wie diese: Wo ist Gott im Angesicht der Katastrophe? Wir bringen Gott nicht zu den Menschen, wir entdecken Gott bei den Menschen. Christus begegnet mir im Angesicht des Nächsten. Das ist unsere Frömmigkeit und theologische Haltung. Wir sehen den Anderen nicht als zu missionierendes Objekt, wir begegnen vielmehr gemeinsam Gott in der Krise. Wir haben Klageräume eingerichtet, ich habe einen Gottesdienst auf einem verwüsteten Campingplatz gehalten. Auf meiner Sommerreise etwa, die auch eine Pilgerreise war, habe ich so viel Segen und Essen erhalten, dass es für eine Weltreise gereicht hätte. Mir ist wichtig, von Gott zu reden als Grund der Hoffnung für unsere Welt.

Ab Sonntag tagt die Landessynode mit dem neuen Präses

Vor einem Jahr wurde Thorsten Latzel (51) zum neuen Präses der Rheinischen Landeskirche gewählt - seit dem 20. März hat der promovierte Theologe das Amt inne. Der in Düsseldorf lebende Familienvater (drei Kinder) blickt auf ein arbeitsreiches Jahr zurück, reiste mehrfach in die Flutgebiete an Erft, Ahr und Wupper.

Schwerpunktthema der Landessynode, die am Sonntag um 13 Uhr mit einem Gottesdienst eröffnet wird, ist in diesem Jahr die Seelsorge. Weitere Themen sind der Schutz des Klimas und der Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen. Gottesdienste und Debatten sind im Netz zu sehen unter: www.ekir.de/landessynode