An Rhein und Ruhr. Erwerbsunfähig durch Corona? Langzeitfolgen einer Erkrankung werden wohl Gerichte beschäftigten, ebenso die Überprüfung von Hartz IV-Ansprüchen.
Umgebaute Büros, viel Homeoffice, Verhandlungen nur in jedem zweiten Saal: Wie überall in der Gesellschaft hat man sich auch an den Sozialgerichten in Nordrhein-Westfalen so gut es geht, mit Corona arrangiert. Die Pandemie ist wohl der Grund, dass es im vergangenen Jahr 10% weniger neue Verfahren gab. Martin Löns, Präsident des in Essen ansässigen Landessozialgerichtes (LSG), geht aber davon aus, dass das dicke Ende noch kommt.
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„Da kommt eine Menge auf uns zu“, zeigte sich Löns an diesem Freitag (16. April 2021) gegenüber Journalisten überzeugt. Ab dem nächsten Jahr erwartet der Jurist eine Vielzahl von Corona-Verfahren. Löns sprach nicht von einer Klage- aber explizit von einer „Belastungswelle“.
Hartz-IV-Bescheide in vereinfachten Verfahren erteilt
So würden zum Beispiel Hartz-IV-Bescheide wegen der Krise aktuell in vereinfachten Verfahren erteilt. Falls in diesem Sommer tatsächlich das Gröbste der Corona-Krise überstanden sein, rechnet Löns mit Überprüfungen der Ansprüche ab Herbst und in der Folge mit Streitfällen, die vor Gericht landen. Beim Kurzarbeitergeld sieht er ebenfalls Konfliktpotenzial - und bei Krankengeld und Rente.
„Die Langzeitfolgen von Corona sind ja noch gar nicht vollständig erforscht“, sagte Löns. Erwerbsunfähig durch Corona? Der LSG-Präsident erwartet, dass solche Fälle auch Gerichte beschäftigen werden. Davon geht auch der Sozialverband VdK aus, der hier bereits jetzt von einem gestiegenen Beratungsbedarf seiner Mitglieder berichtet.
Verfahrensdauer ist deutlich gestiegen
Löns geht davon aus, das weitere Richterverstärkung nötig ist. Alleine in der ersten Instanz haben die landesweit acht Sozialgerichte aktuell einen Berg von mehr als 100.000 noch nicht abgeschlossenen verfahren - „eine besorgniserregende Zahl“, wie Löns findet. Eilentscheidungen fallen zwar nach wie vor nach durchschnittlich 2,3 Monaten. Auf das Ergebnis eines Hauptverfahrens warten Beteiligte aber mittlerweile 14,9 Monate. 2019 waren es noch 13,6 Monate gewesen.
Für den Berg von offenen Verfahren haben insbesondere Abrechnungsrechnungsstreitereien zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern gesorgt. 2018 und 2019 hatte es zwei große Klagewellen gegeben; die zahl solcher Streitigkeiten nehme aber auch jetzt weiter zu. Wie Löns berichtete, beschäftigen allein solche verfahren derzeit 80 Mitarbeiter der Sozialgerichte in NRW.
Schiedsverfahren für solche Streitfälle angeregt
Weil die Lage in anderen Bundesländern sehr ähnlich ist, regt der LSG-Präsident an, ein Schiedsverfahren für solche Streitfälle zu entwickeln oder einen Mindeststreitwert festzusetzen, an dem erst vor Gericht verhandelt wird. Weniger die Gerichtskosten, wohl aber Honorare für hochspezialisierte Anwälte machen solche Verfahren teuer. Martin Löns schätzt, dass es bundesweit um Kosten von „hunderten Millionen Euro“ geht: „Das Geld fehlt der Krankenversicherung zur Erfüllung ihrer Aufgaben.“
Damit nicht genug: Eine anhaltende Vakanz erschwert die Arbeit der Sozialgerichtsbarkeit in NRW. Nachdem bereits Löns sein Aufrücken zum Präsidenten des Landessozialgerichtes hatte gerichtlich durchsetzen müssen, war das NRW-Justizministerium bisher noch nicht in der Lage, die Stellvertreter-Position nachzusetzen.
Erst Vize ohne Präsident, jetzt Präsident ohne Vize
Seit mehr als vier Jahren ist die Spitze des höchsten Sozialgerichtes in NRW damit nicht vollständig besetzt. Löns’ Vorgänger Nieding war im Februar 2018 ausgeschieden. „Erst war ich ein Vizepräsident ohne Präsident, jetzt bin ich ein Präsident ohne Vize“, sagte Löns. Die Stellvertreterposition ist seit fast zwei Jahren ausgeschrieben, dem Vernehmen nach gibt es mehrere Bewerber - und seit geraumer Zeit keine Bewegung mehr beim Besetzungsverfahren..