An Rhein und Ruhr. Nach dem Astrazeneca-Impfstopp stellen sich in Kitas viele Fragen. Wie geht es weiter? Wie hoch ist die Infektionsgefahr? Ein Erzieher berichtet.
Hinter dem Düsseldorfer Erzieher Simon Gyssen liegen harte Tage. Nach seiner Astrazeneca-Impfung in der vergangenen Woche hatte er mit starken Nebenwirkungen zu kämpfen und musste dann am Dienstag den Ausfall von Kollegen kompensieren. „Ich war mit 18 Kindern alleine in der Gruppe“, sagt er. Viele seiner insgesamt 29 Kollegen seien am vergangenen Wochenende geimpft worden und ebenfalls durch die Nebenwirkungen der Impfung an Fieber, Schüttelfrost und Kopfschmerzen erkrankt.
„Am Montag war Land unter in der Kita“, sagt Gyssen. Zwei der insgesamt sieben Gruppen mussten aufgrund von fehlendem Personal geschlossen werden. „Für die Eltern ist das natürlich immer hart. Da wir die Gruppen nicht mischen dürfen, mussten wir viele Kinder wieder von den Eltern abholen lassen“, sagt Gyssen.
Dennoch sind immer noch viele Kinder in der Kita, die den Erzieher umarmen oder auf dessen Schoß sie seinen Geschichten beim Vorlesen lauschen. Von Kontaktreduzierung kann hier kaum die Rede sein. „Ich trage immer eine FFP2-Maske, den ganzen Arbeitstag, auch beim Vorlesen“, beschreibt er die Situation. Dies sei anstrengend und immer noch gewöhnungsbedürftig. Dennoch fühle er sich, wenn ein Kind hustet oder niest, damit einfach besser geschützt.
Robert Koch-Institut: Infektionszahlen in Kitas steigen
„Ich bin mir aber auch gar nicht sicher, ob Kinder das Virus so schnell übertragen“, sagt er. Dies zeige sich seiner Meinung nach auch an den geringen Corona-Fällen in der Einrichtung, im Gegensatz zu anderen Institutionen. Im gesamten Corona-Jahr 20/21 verzeichnete die Kita lediglich drei Corona-Fälle. „Wir rechnen aber schon, dass es durch die Mutationen noch einmal mehr werden kann“, sagt der Erzieher.
Schon jetzt ist nach Angaben des Robert Koch-Instituts ein deutlicher Anstieg erkennbar: Bei Kindern zwischen null bis 14 Jahren habe sich die Inzidenz in den vergangenen vier Wochen verdoppelt. Keine andere Altersklasse habe so einen starken Zuwachs verzeichnet. „Aktuell scheint sich die Rolle von Kindern und Jugendlichen bei der Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu ändern“, so das RKI. Auch die Ausbrüche in Kitas würden „sehr rasch ansteigen“. Für Mirko Trilling von der Uniklinik Essen keine Überraschung: „Wenn plötzlich Tausende Kinder zurück in die Schulen und Kitas gehen, steigt die Anzahl der Kontakte, und es gibt mehr Infektionen.“
Doch sind Kinder genauso ansteckend wie Erwachsene? Darauf könne die Wissenschaft laut Trilling noch keine finale Antwort geben. „Ein Trend deutet aber darauf hin, dass Kinder eher weniger ansteckend sind und das Virus seltener weitergeben.“ Letztlich stehe die Politik aber bei allen Altersklassen vor der gleichen Problematik: „Sobald Corona-Maßnahmen zurückgedreht werden, nehmen auch die Kontakte zu.“ Die Kita-Öffnungen seien ein Kompromiss. Denn eines sei klar: „Es gibt keine vollständige Sicherheit, wenn Kitas aufmachen.“
Nach Impfstopp: Vertrauen in Astrazeneca nimmt ab
Auch Gyssen fühlt sich trotz seiner Impfung nicht wirklich geschützt, denn er fragt sich: Ist der Impfstoff wirksam? Muss ich erneut geimpft werden? Werde ich dann wieder so schlimme Nebenwirkungen spüren?
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Zusätzlich kommen Sorgen hinzu, ob die Impfung mit dem Stoff, der plötzlich so viele Risiken bergen soll, richtig war. „Das Vertrauen in den Impfstoff fehlt mir mittlerweile“, gibt der Erzieher zu. Ob er sich, rückblickend betrachtet, wieder impfen lassen würde, sei „schwer zu beantworten“. Er wünsche sich, dass die Kindertagesstätten wie im ersten Lockdown zurzeit nur Kinder von Eltern aus systemrelevanten Berufen betreuen müssten – so wie das die Stadt Duisburg gestern beschlossen hat. „Eine komplette Schließung halte ich für nicht sinnvoll“, sagt er.
Die derzeitige Situation sei nicht einfach, zeigt sich Stefan Behlau, Vorsitzender des NRW-Landesverbands Bildung und Erziehung, verständnisvoll für die Situation und Sorgen der Erzieher in NRW. Er blickt aber auch auf die andere Seite, die Eltern. Das steigende Infektionsgeschehen auf der einen Seite, die Sorge um die Kinder auf der anderen Seite und auch die Nöte in den Familien spielten bei Überlegungen von möglichen Kitaschließungen oder weiteren Reduzierungen der Betreuungszeit eine entscheidende Rolle.
„Corona-Notbremse darf keine Worthülse bleiben“
„Die von Minister Stamp formulierte Corona-Notbremse darf keine Worthülse bleiben, sie muss dringend präzisiert werden. Die Kitas müssen zudem zumindest die Möglichkeit haben, den Betreuungsumfang zu reduzieren, wenn es die Situation erfordert“, sagt er.
Miriam Minten, Mutter eines fünfjährigen Sohnes, hätte für Kitaschließungen „kein Verständnis“. Ihr gehe es durch die gesamte Corona-Situation „psychisch mittlerweile immer schlechter“, und auch ihr Sohn leide enorm darunter, „nicht mehr alle seine Freunde auf einem Haufen“ sehen zu können. „Er braucht die Kita. Er braucht ein Stück Normalität“, sagt sie.
Um eine Schließung der Kitas zu vermeiden, hofft der Elternbeirat NRW auf eine schnelle Beurteilung des Astrazeneca-Impfstoffs durch das Paul-Ehrlich-Institut. „Wir haben Verständnis für die Erzieher, aber die Situation muss jetzt einfach schnell geklärt werden, damit auch weiter geimpft werden und die ohnehin schon reduzierte Betreuungszeit aufrecht erhalten werden kann“, sagt Pressesprecherin Daniela Heimann.