Altkreis Kleve/Geldern/Moers/Wesel. Von Aldekerk bis Wattenscheid, von Elten bis Kettwig: Auch 46 Jahre nach der kommunalen Neuordnung haben viele noch keinen Frieden damit gemacht.
Von Bergamo bis ins Herz von knapp 5000 Niederrheinern zu treffen: Robin Gosens kann so etwas. Von weitem, also für 99 Prozent aller Fußballfreunde, ist er ein deutscher Nationalspieler, der in Italien sein Ciabatta verdient. Für einige wenige ist der Linksverteidiger von Atalanta Bergamo „der Nationalspieler aus Emmerich“. Spätestens da rufen knapp 20.000 Emmericher und gut 5000 Eltener „Foul“. Denn für die Eltener ist Gosens einer von ihnen. Und für Emmericher ist ihr Nationalspieler immer noch Rainer Bonhof, der Weltmeister von 1974.
Denn zwischen Bonhof und Gosens liegt nicht nur eine Fußballergeneration, sondern auch eine Gebietsreform – zwei Tage nach dem WM Triumph im Landtag beschlossen. Und 1975 wurde das Land folglich neu zusammengepuzzelt, für bessere Verwaltung, professionellere Strukturen. Klingt kühl, ist es auch und hat das Heimatgefühl vieler Menschen nicht verändert.
Abzulesen daran, dass sich mittlerweile mehrere Hunderttausend Autofahrer ab 2012, als es endlich wieder erlaubt war, fast vergessene Autokennzeichen wie MO, GEL, DIN, BOC, WAT ans Auto schraubten. Ganz so, als würde es damit zum Fluxmobil, mit dem man zurück in die Zukunft reisen könne.
Es ist schon komisch, dass wir Menschen meinen, die Ordnung, die wir als Kinder vorfinden, müsse für immer Bestand haben. Dabei hätten gerade die Eltener wissen können, dass nichts so beständig ist wie der Wandel, waren sie doch erst 1963 der Auftragsverwaltung der Niederländer entgangen.
Wobei das Verhältnis der Menschen diesseits und jenseits der Grenze recht gut ist, Robin Gosens jedenfalls hat eine deutsche Mutter und einen niederländischen Vater.
Noch 2019 wurden Schilder überklebt, auf denen Emmerich-Elten stand
Vielleicht aber traf sie deswegen der Verlust der Eigenständigkeit nur zwölf Jahre später besonders hart. Und schmerzt bis heute, nicht nur in Elten, sondern vielerorts. Als im Sommer vergangenen Jahres das Dörfchen nach gut 40 Jahren wieder einen Bahnhof erhielt, wurden in einer Nacht- und Nebelaktion die Schilder überklebt und aus „Emmerich-Elten“ wurde wieder „Elten“. Und niemand hat die Zahl der beschädigten Dorfeingangsschilder gezählt, bis heute eine Fassung am Straßenrand steht, auf der Elten groß und „Stadt Emmerich am Rhein“ klein darunter steht.
Auch mit legalen Aktionen hielten die Eltener nicht hinter ihrem 80 Meter hohen Berg: Für viel Geld ließen sie eine flammende Streitschrift gegen das drohende Ungemach drucken: „Elten – ein brennendes Problem“. Da half es nichts, dass NRW-Innenminister Willi Weyer den Eltenern eine Spielbank versprach – die Kugel im Casino rollte nie. Stattdessen zahlten die Eltener gutes Geld für einen Gutachter und prozessierten vor dem Verfassungsgerichtshof in Münster. Aber es half alles nichts.
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Gleichwohl brachten die Reformpläne Tausende Menschen auf die Straße – überall in NRW: Die Kettwiger, deren katholische Einwohner bis heute nicht zum Bistum Essen gehören, aber zur gleichnamigen Stadt. Und das, obwohl sie für sich in Anspruch nehmen können, neben Werden als einziger Stadtteil Essens südlich der sprachlich bedeutsamen „Benrather Linie“ zu liegen. Mit gewissem Recht könnten die Kettwiger argumentieren, dass sie von Menschen regiert werden, die nicht einmal die gleiche Sprache sprechen.
Im „Kettwiger Kreis“ verbündeten sich noch zwischen 1983 und 1990 Bürger von Kettwig, Wattenscheid, Hohenlimburg (bei Hagen), Porz (Teil von Köln), Rheinhausen und Rheydt mit dem Ziel, die Gebietsreform rückabzuwickeln. Daran sind viele gescheitert -- mit einigen pikanten Ausnahmen: Das früh bespöttelte Flickwerk „Glabotki“ wurde wieder getrennt: Gladbeck bekam seine Eigenständigkeit zurück, genauso wie Wesseling (südlich von Köln) und das wiederbelebte Städtchen Monheim am Rhein, das Langenfeld, Düsseldorf und Leverkusen gern unter sich aufgeteilt hätten.
Nicht nur im Düsseldorfer Rathaus wird man sich angesichts der sehr eigenständigen, kommunalen Steuerpolitik in Monheim ärgern, dass das Urteil damals so und nicht anders ausgefallen ist.
Homberg zieht’s nach Moers - und das nicht nur, wenn Karnevalszug ist
Moers hingegen, obschon seit 1975 seines Kreisstadt-Status verlustig gegangen, scheint eine attraktive Stadt zu sein. Noch 2014 suchten rund 70.000 Duisburger aus Homberg und Baerl den Anschluss an die Stadt, mit der sie ohnehin die Vorwahl 02841 teilen. Vielleicht in diesem Jahr noch ein bisschen mehr als sonst, wo doch das große Symbol der Gemeinsamkeit, der Nelkensamstagszug, mal wieder ausfällt. Was nichts daran ändert, dass viele Menschen Gebietsreformen für eine Narretei halten.
NRZ-Chefredakteur Manfred Lachniet erinnert sich auch noch an das Schicksalsjahr 1975: „Mein Vater und viele andere hatten Autos und Wände mit Aufklebern„Walsum, nur nicht nach Duisburg!“ versehen. Die selbstständige Stadt (PLZ 4103) wollte lieber nach Dinslaken. Aber es kam leider anders. Genauso dachten die Menschen in Homberg und Rheinhausen, die wollten selbstständig bleiben oder notfalls zum Kreis Moers gehen. Aus Daffke schafften sich diese Gemeinden dann teure Projekte an, damit Duisburg sie bezahle: die Rheinhausenhalle, Stadthalle und Allwetterbad in Walsum, das Bad in Homberg. Alles irre. Noch heute haben viele Menschen dort das Gefühl, dass Duisburg sie nicht glücklicher gemacht hat.“
Aber um Glück ging es dabei ja nie, nicht einmal um Heimatgefühle. Sondern um eine (vermeintlich) einfachere, schlankere Verwaltung. Kein Thema, mit dem man punkten kann - oder auf Interesse stößt. Selbst der seinerzeit verantwortliche Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) bekundete später, er habe sich beim Thema Gebietsreform oft gelangweilt „wie die Eule im Mauerloch“.