An Rhein und Ruhr. Im Rheinischen Revier sollen noch fünf Dörfer abgebaggert werden. Ein Gutachten sagt, dass dies unnötig ist. Es war unter Verschluss.

In den von der Braunkohle bedrohten Dörfern im Rheinischen Revier ist die Empörung groß: Das Bundeswirtschaftsministerium hat ein Gutachten zurückgehalten, aus dem hervorgeht, dass die Umsiedlung der Dörfer Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich sowie Berverath nahe Erkelenz nicht notwendig wäre, wenn beim Kohleausstieg den Empfehlungen der sogenannten Kohlekommission gefolgt worden wäre. Aktivisten sprechen von einem Skandal, die Grünen im Landtag drängen auf Konsequenzen und einen Stopp der Umsiedlungsmaßnahmen.

Das über 260 Seiten umfassende Gutachten eines Konsortiums unter Führung des wirtschaftsnahen Büro für Energiewirtschaft und technische Planung (BET) lag bereits im November 2019 vor, veröffentlicht wurde es allerdings erst in der vergangenen Woche. Der „Abnahmeprozess“ habe Zeit in Anspruch genommen, heißt es aus dem Bundeswirtschaftsministerium. In dem Papier wird untersucht, welche Folgen der von der Kohlekommission im Januar 2019 vorgeschlagene lineare Ausstiegspfad aus der Kohle hat. Die Gutachter kommen zu dem Schluss, dass im Rheinischen Revier nicht nur der Hambacher Forst, sondern auch die fünf bedrohten Dörfer erhalten bleiben können.

NRW und RWE übten gemeinsam Druck aus

Jedoch hielt sich die Politik nicht die Empfehlung der Kohlekommission, sondern beschloss im Kohleausstiegsgesetz, das im August 2020 in Kraft trat, ein anderes, terrassenförmiges Ausstiegsszenario, für das eine größere Menge Braunkohle ausgebaggert und verstromt werden muss. Auf Druck der nordrhein-westfälischen Landesregierung und des Energiekonzerns RWE wurde in das Gesetz zudem die „energiewirtschaftliche Notwendigkeit“ des Tagebaus Garzweiler II hineinformuliert. Die Absicherung des Tagebaus „einschließlich der damit verbundenen Umsiedelungen“ sei ein „zentrales Anliegen von NRW/RWE“ gewesen, heißt es in einer auf der Plattform „Frag den Staat“ veröffentlichten Stellungnahme des Bundeskanzleramtes.

„Aus unserer Perspektive ist das ein Riesenskandal, dass das Gutachten so lange zurückgehalten worden ist“, so David Dresen von der Initiative „Alle Dörfer bleiben“. Wären Bund und Länder den Empfehlungen der Kohlekommission gefolgt, „hätte der Kampf um die Dörfer schon längst vorbei sein können“, so Dresen. Auch Antje Grothus spricht von einem „handfesten politischen Skandal“. Die Umweltschützerin war Mitglied der Kohlekommission. Sie und sieben weitere der insgesamt 28 Mitglieder des Gremiums hätten „immer wieder betont, dass der von der Kommission empfohlene stetige Kohle-Ausstiegspfad absolut ausreichend ist um die bedrohten Dörfer zu retten“.

BUND: Psychoterror gegen Dörfer stoppen

Dirk Jansen, Geschäftsleiter und Sprecher der Umweltorganisation BUND, nennt einen Verzicht auf Umsiedelungen nun „folgerichtig“ und fordert die Landesregierung auf, Einfluss auf RWE zu nehmen, um den „Psychoterror“ gegen die verbliebene Bevölkerung in den Dörfern zu unterlassen, etwa die Fällung von Bäumen oder den Abriss weiterer Infrastruktur. Die energiepolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, Wibke Brems, verlangt von der Landesregierung den im Oktober vorgelegten Entwurf der Leitentscheidung für das Rheinische Revier so zu überarbeiten, dass die Dörfer bleiben können. Die Leitentscheidung soll im März beschlossen werden. „Das Gutachten ist gerade noch rechtzeitig gekommen“, so Brems.

Tatsächlich scheint die Landesregierung von dem Inhalt des Gutachtens beeindruckt zu sein. Noch im Oktober verkündete Landeswirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP), die Umsiedelungen in Erkelenz müssten fortgeführt werden. Nun heißt es aus dem Ministerium: „Die Expertise des Gutachtens wird ebenso wie andere Studien in den weiteren Prozess der Leitentscheidung einfließen.“ Pinkwart sagte auf Anfrage, man werde vorhandene Spielräume im Kohleausstiegsgesetz zugunsten „unserer Bürgerinnen und Bürger und der Region nutzen“.

Ein Hinweis darauf, dass die Dörfer noch nicht verloren sind? „Für diejenigen, die nicht wegziehen wollen, scheint der Sieg zum Greifen nahe“, hofft Aktivist David Dresen. Aktuell leben in den Dörfern noch 800 Menschen. Mindestens 300 wollen definitiv nicht wegziehen.