Am Niederrhein. Es ist wohl irgendetwas zwischen Platt und Hochdeutsch, das Niederrheinische. LVR-Sprachforscher Dr. Georg Cornelissen hat sich tüchtig umgehört.
Der Mann kennt uns. Er weiß, wie der Niederrheiner spricht und vor allem, er weiß: warum wir so sprechen wie wir sprechen. Dr. Georg Cornelissen ist Sprachforscher in Diensten des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) in Bonn. Und ab heute hat er einen neuen „Job“. Alle vierzehn Tage schreibt er für uns über das Niederrheinische. Motto: „Nix für ungut!“
Herr Dr. Cornelissen, welches Niederrheinisch ist denn in dieser Kolumne gemeint?
Das Alltagsniederrheinisch, das fast alle sprechen: Es taucht auf in Sätzen wie: Dat habb ich nich gewollt. – Hasset oder krisset? – Ma kucken, wo dat Jüngsken is.
Das ist also kein „echtes“ Platt?
Nein, es ist „echte“ Umgangssprache: Alltagssprache. Angesiedelt irgendwo zwischen Platt und Hochdeutsch. Aber diese alltägliche Sprache des Niederrheins hat viele Wörter und Wendungen beim Platt geborgt: Brassel, Huckel, knubbelig und knüsselig – Vokabeln wie diese sind dem alten Platt zu verdanken.
Brassel, Huckel, knubbelig und knüsselig
Was zeichnet die Umgangssprache denn noch aus?
Sie ist offen für vielerlei Einflüsse von außen: Die „Puschen“ werden aus Norddeutschland übernommen (in die Puschen kommen), die „Stulle“ schleicht sich von Berlin aus ein und konkurriert dann mit niederrheinischem „Bütterken“, „Botteram“ oder „Dubbel“.
Was macht den Reiz des Niederrheinischen aus?
Es hat spielerische Züge, kann sehr salopp daherkommen und ist geradezu experimentell, man denke an Wortkreationen wie Hickeschlick oder Muckefuck. Oder an Verkleinerungsformen wie Männeken und Pinneken: Unverwechselbar Niederrhein!
Hickeschlick und Muckefuck
Gibt es Wortwendungen, die der Kreis Klever kennt, der Kreis Weseler aber niemals benutzen würde?
Ich sehe die Unterschiede eher zwischen den beiden Rheinseiten: links und rechts. Früher nannte man das andere Ufer „de gönne Kant“: Das war ganz, ganz weit weg! Übrigens werde ich schon in der zweiten Folge, da geht es um den Schluckauf, solche Gegensätze erläutern.
Der Sprachforscher aus Winnekendonk
Dr. Georg Cornelissen (geboren 1954) stammt aus Winnekendonk an der Fleuth, ist in Kevelaer an der Niers zum Gymnasium gegangen, hat im Kreis Kleve Fußball gespielt, in Bonn und Köln studiert und in Düsseldorf die Lehrerausbildung absolviert.
Seit 1985 ist er als LVR-Sprachforscher am Niederrhein und im Rheinland unterwegs, inzwischen als Leiter der Abteilung Sprachforschung beim „Institut für rheinische Landeskunde und Regionalgeschichte“ im LVR Rheinland. Er lebt mit seiner Familie im Süden von Bonn, dem Siebengebirge gegenüber. Seit 2008 ist Cornelissen auch im Beirat der Akademie för uns Kölsche Sproch.
Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Grenzübergreifende deutsch-niederländische Dialektforschung, Namenforschung und Regionale Sprachgeschichte.
Sehen Sie irgendwo eine „Sprachgrenze“, also etwa zum Rheinländer oder Westfalen?
Kommt drauf an. Wenn Sie in Hamminkeln leben, ist Westfalen ganz nahe.
Von Zyfflich aus gesehen liegen die Niederlande viel näher. Von Wachtendonk aus betrachtet sieht die Sprachwelt schon wieder anders aus. Der Niederrhein hat kein Sprachzentrum, aber viele Kontakte: Wörter sind mobil.
Wie sind Sie denn dazu gekommen, die Niederrheiner sprachlich und wissenschaftlich so unter die Lupe zu nehmen?
Wenn Sie so wollen, bin ich „hängengeblieben“. Ich stamme ja vom Niederrhein, und meine allererste kleine Veröffentlichung kreiste um den Namen Janßen und wie man ihn hier schreibt. Darüber habe ich später ein ganzes Buch geschrieben. In sprachlicher Hinsicht hat dieser Raum „unwahrscheinlich viel“ (so sagt man hier gern) zu bieten.
Hier gibt’s Infos zum LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte
Haben Sie ein Lieblingswort?
Viele, sehr viele. Ganz oben auf meiner persönlichen Hitliste steht die Fiets (manche meinen: der Fiets). Man kann natürlich auch Radd oder Farradd sagen: Das oder dat Farradd!
Wie finden Sie solche Wörter und Wendungen?
Ich bin ja schon seit Jahr und Tag auf der Suche. Dann habe ich das Glück, im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte viele Dutzend niederrheinischer Wörterbücher und Tausende ausgefüllter Fragebögen vom Niederrhein zur Verfügung zu haben. Man darf hier schon von wahren Fundgruben (in der Mehrzahl!) sprechen. Und ich stamme ja selbst vom Niederrhein, oft brauche ich also nur in mich hineinzuhorchen.
Kleine Bücherauswahl
Sprachforscher Dr. Georg Cornelissen hat natürlich schon eine ganze Menge Fachliteratur veröffentlicht. Das Schöne: Man kann den Mann auch verstehen, ohne Sprachforscher zu sein.
Hier eine kleine Auswahl:
Meine Oma spricht noch Platt. Wo bleibt der Dialekt im Rheinland? Köln 2008.
Jans(s)en vom Niederrhein. Die Erfolgsgeschichte eines Namens. Kleve 2. Aufl. 2012.
Der Niederrhein und sein Deutsch. Sprechen tun et fast alle. Köln 4. Aufl. 2014.
Wie spricht der Niederrhein? Dat Quiz mit noch mehr Fragen. Köln 2014.
Kleine Sprachgeschichte von Nordrhein-Westfalen. Köln 2015.
Düsseldorfisch. Eine Stadt und ihre Sprache. Köln 2017.
G. Cornelissen/Markus Denkler:
Die Dialekte von Nordrhein-Westfalen. 44 Sprachaufnahmen aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Münster 2018 [CD].
Hat Sie bei all Ihren Forschungen auch schon ‘mal etwas sprachlos gemacht?
Ich war schon oft vonne Socken und bin schon oft vom Höckerchen gefallen: Immer wieder kommen die Menschen mit Wörtern und Wendungen oder zumindest mit Varianten, die für mich neu sind. Bei Vorträgen werde ich zum Beispiel nicht selten aus dem Publikum auf mir bislang Unbekanntes hingewiesen. Aber es gibt auch den umgekehrten Fall: Ich fange beim Hölzken an und komme aufs Stöcksken. Oder in der Sprache Theodor Fontanes: Ich gerate schon mal leicht vom Hundertsten ins Tausendste – nix für ungut!