Geldern. Vor fünf Jahren kam Nesar Ahmad Aliyar ohne Sprachkenntnisse nach Geldern. Jetzt hat er sein Abitur bestanden und plant sein Medizinstudium.

Als Angela Merkel im August 2015 ihre wohl berühmtesten drei Worte („Wir schaffen das“) sprach, lebte Nesar Ahmad Aliyar gerade gut fünf Monate in Deutschland. „Ich wusste damals, dass wir irgendwann sagen können: ‚Wir haben es geschafft‘“, blickt er zurück.

Nesar sitzt in im Wohnzimmer einer kleinen Wohnung in Geldern, die er gemeinsam mit seinem Vater und seinem Cousin bewohnt. Hinter ihm liegt bereits ein anstrengender Tag, denn er hatte Frühschicht. Der 18-Jährige absolviert gerade ein Pflegepraktikum im St. Clemens-Hospital. Damit überbrückt er die Zeit zwischen Abitur und dem geplanten Medizinstudium – Arzt ist sein Traumberuf, schon seit er sechs Jahre alt war. Der Krieg in Afghanistan und die schlechte medizinische Versorgung haben diesen Wunsch in ihm geweckt.

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Als Nesar im März 2015 in Deutschland ankommt, ist er gerade einmal 13 Jahre alt. Von Kabul aus geht es für ihn erst mit dem Flugzeug in die Türkei, von dort aus weiter „über Umwege“ nach Deutschland. Er passiert unter anderem Bulgarien und Ungarn, sein Ziel klar vor Augen: Geldern am Niederrhein. Denn hier lebt sein Vater zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Jahren. „Ich bin in Kabul aufgewachsen, da leben über drei Millionen Menschen. Deshalb fand ich die Stadt Geldern schon sehr klein“, sagt er, lächelnd auf seine ersten Eindrücke zurückblickend.

Nach Kabul und Geldern – nächstes Ziel: Berlin

Nun, nach dem Abi, zieht es ihn wieder in die Großstadt: „Am liebsten würde ich in Berlin studieren“, erzählt er sehnsüchtig. Dabei geht es ihm aber nicht um die schillernde Metropole, sondern darum, die bestmögliche Ausbildung zu bekommen. An der Charité würde er gern lernen, alternativ kämen auch Münster, Heidelberg, Aachen oder Düsseldorf in Frage. Sorgen um einen Studienplatz muss er sich wohl nicht machen, denn sein Abi-Durchschnitt liegt bei 0,8.

Sollte es mit dem Medizinstudium wider Erwarten nicht klappen, hätte er keinen Plan B, „obwohl das natürlich klüger wäre“, gibt er zu. „Aber ich will den Gedanken nicht zulassen, dass Plan A nicht funktioniert.“

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Wäre Nesar in Kabul geblieben, wäre er vielleicht längst Arzt. „In Afghanistan habe ich fünf Klassen übersprungen. Dort ging ich zuletzt in die zwölfte Klasse“, erzählt er. Seine damaligen Schulfreunde sind mit der Uni bereits fertig.

Nesar hingegen fängt 2015 in Deutschland noch einmal neu an: In der neunten Klasse an einer Gelderner Realschule. „Ich wollte erst mal die Sprache lernen“, erklärt er seine Entscheidung, seine Schullaufbahn nicht regulär fortzusetzen. Zu groß war die Sorge wegen fehlender Sprachkenntnisse einen schlechteren Abschluss zu machen und damit den ersehnten Studienplatz zu riskieren.

Sprache als Schlüssel zur Integration

Denn als Nesar 2015 in Deutschland ankommt, spricht er nicht ein Wort Deutsch. „Das war ein komisches Gefühl. Ich saß ich in der Klasse und habe nichts verstanden.“ Doch Freunde, Mitschüler und Lehrer unterstützen ihn beim Deutschlernen und Nesars Motivation ist groß. „Nach sechs, sieben Monaten konnte ich schon recht viel verstehen und meine Bedürfnisse ausdrücken.“ Heute lässt nur noch ein leichter, melodischer Akzent erahnen, dass er kein Muttersprachler ist.

Sprache ist für ihn der Schlüssel zur Integration. Dabei seien vor allem Sprechkontakte essenziell, weniger das stumpfe Vokabel- und Grammatikpauken: „Wenn man mit den Menschen, die Deutsch sprechen, nicht Kontakt aufnimmt, kann man auch die Sprache nicht lernen“, ist er überzeugt. Zugleich sei es aber auch wichtig, dass die Hierlebenden den Zugezogenen aufgeschlossen begegnen: „Wichtig ist, dass man offen aufeinander zugeht. Dass wir Menschen, die wir nicht kennen, nicht hassen.“

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Denn obwohl Nesar viele freundliche Kontakte hatte, sind ihm auch Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und oft eine kolonialistische Denkweise begegnet: „Viele denken zum Beispiel, dass Afghanistan nur eine Wüste wäre und die Menschen nicht zivilisiert sind“, beklagt er – selbst in Behörden: „Hier ist Deutschland, nicht Afghanistan“, habe er oft zu hören bekommen, immer in negativem Kontext, wenn beispielsweise mal ein Dokument fehlte. „Das ist verletzend“, erklärt er, impliziert es doch, dass es in Afghanistan keine Regeln gäbe.

„Integration heißt nicht unbedingt, dass man gute Noten hat“

Nach fünf Jahren in Deutschland, kann Nesar sagen, dass er es geschafft hat, mit der Integration. Allerdings betont er: „Integration heißt nicht unbedingt, dass man gute Noten hat.“ Vielmehr gebe es viele Varianten gelungener Integration. „Man muss sich anpassen. Es gibt nicht nur sprachliche, sondern auch kulturelle Unterschiede“, resümiert er. Für ihn habe es sich aber nie wie ein Zwang oder Druck angefühlt. „Hier existieren Demokratie, Freiheit, Menschenrechte – ich glaube, die Mehrheit der Menschen in Afghanistan sehnt sich nach so einem System.“

Wenn er mit dem Studium fertig ist, möchte Nesar weiter in Deutschland leben und „der Gesellschaft etwas zurück geben“. Und auch die deutsche Staatsbürgerschaft möchte er eines Tages annehmen.